Das hier zu besprechende Werk ist aus dem Spiegel-Spezial-Sonderband:
"Preußen" hervorgegangen, der im vergangenen Jahr erschienen ist. Das
Buch folgt der gängigen Geschichtsschreibung und sieht Preußen - in Anlehnung
an die französische Schriftstellerin Germaine de Stael - als janusköpfigen
"Doppelstaat". Auf der einen Seite stehe das "gute"
Preußen, in welchem der Herrscher - zumindest in der Rhetorik Friedrichs des
Großen - der erste Diener seines Staates war. Hierfür stehen auch die Reformen
der Minister Stein und Hardenberg, die die preußische Verwaltung
reorganisierten. Ihre Reformen werden in diesem Band als "das größte
Reformprojekt" der deutschen Geschichte bezeichnet.
Auf der anderen Seite stehe das "böse" Preußen: es sei engstirnig,
machtbessen und militaristisch gewesen. "So war Preußen zerrissen zwischen
Moderne und Rückständigkeit". Dies ist eine der zentralen Thesen des
Buches. Und diese Tatsache schaffe eien üppigen Nährboden für Mythen und
Legenden. Auf Preußen hätten sich sowohl Reformer wie Reaktionäre,
Monarchisten und Demokraten, Junker und Industrielle, Liberale und Konservative,
Nationalsozialisten und Widerstandskämpfer berufen können. Daher erscheine
Preußen heute noch als eine weithin "unbekannte Großmacht". Preußen
sei durch Ästhetisierung verharmlost, andererseits durch Karikierung verteufelt
worden.
In diesem Buch loten Spiegel-Redakteure und auf die Geschichte Preußens
spezialisierte Historiker das vielschichtige Wesen des 1947 untergegangenen
Staates aus.
An diesem Band besticht insbesondere die historische Einführung von Klaus
Wiegrefe. Dies ist auch der Grund, weshalb ich dem Buch die volle Punktzahl
gebe. Differenziert analysiert der Spiegel-Redakteur in seinem glänzenden Essay
Stärken und Schwächen Preußens vom Beginn des Königtums 1701 bis zu seinem
Untergang 1947. Was ich an diesem Essay besonders interessant finde, ist, dass
er Preußen nicht - wie das im letzten Jahr erschienene Werk des australischen
Historikers Christopfer Clark - mit der Ausrufung des deutschen Kaiserreiches
1871 untergehen lässt. Die Sorge des preußischen Königs und späteren ersten
deutschen Kaisers Wilhelm I., mit der Gründung des Kaiserreiches werde das
preußische Königtum zu Grabe getragen, sei unberechtigt gewesen. Das
janusköpfige Preußen habe mit seinen Widersprüchen auch das Kaiserreich
geprägt, dessen "Leitkultur" die Militarisierung der Gesellschaft
gewesen sei, wie dies Carl Zuckmayer in seinem "Hauptmann von
Köpenick" treffend dargestellt habe. Das alte Preußen habe seine
Privilegien gewahrt, das Dreiklassenwahlrecht sei im Kaiserreich nie reformiert
worden, die politische Macht des ostelbischen Grundbesitzes nicht gebrochen
worden. Die führende Industriemacht Europas mit seinen modernen Universitäten,
einer Kranken- und Unfallversicherung, die es sonst noch nirgends gab und die
zeigten, dass das Kaiserreich an der Spitze des sozialen Fortschritts stand,
wurde wie eine halbfeudale Militärmonarchie regiert: "der preußische
Januskopf im Reichsmaßstab.". Ansonsten habe eine "geistige
Leere" in Preußen geherrscht, die durch Nationalismus und Militarisung der
Gesellschaft ausgefüllt worden sei. Immerhin habe das Kaiserreich trotz
nationalen Größenwahns über 40 Jahre Frieden mit seinen Nachbarn gehalten,
ehe es Europa 1914 mit Krieg überzog: nicht als Alleinschuldiger, aber als
Hauptschuldiger.
Die beste Zeit der preußischen Geschichte sei das demokratische Preußen
zwischen 1918 und 1932 gewesen, für das stellvertretend der langjährige
sozialdemokratische Ministerpräsident Otto Braun gestanden habe. Dieses wurde
am Ende der Weimarer Republik durch den reaktionären Reichskanzler Franz von
Papen und den - den ostelbischen Grundbesitz repräsentierenden - ebenfalls
reaktionär denkenden Reichspräsidenten von Hindenburg - durch den
Preußenschlag zerstört. Hitler habe den Preußenmythos für eigene Zwecke -
insbesondere zur Stabilisierung seiner Macht benutzt, wie der "Tag von
Potsdam", die "Rührkomödie", gezeigt habe. "Ob es ohne ein
Königreich Preußen Hitler nicht gegeben hätte, ist eine beliebte Frage."
[Christopher Clark verneint im gleichen Band in einem Interview diese Frage und
plädiert dafür, nicht länger Traditionslinien von Preußen zum
Nationalsozialismus zu ziehen]. Profitiert habe Hitler von dem Hohenzollernstaat
in einer Hinsicht: es habe lange gedauert, ehe die Wehrmachtoffiziere ihre
preußisch-verquasten Ehrbegriffe aufgaben und den Diktator zu töten
versuchten. Am Ende habe Hitlers Hybris Preußens Existenz zerstört. Preußen
sei daher passé, Deutschland - verankert in westlichen Bündnissen - könne auf
dem weiteren Weg zur politischen Union Europas von Preußen, weldhes weder
republikanisch noch föderativ organisiert war, nichts lernen.
Diesem Essay muss man nicht in allen Einzelheiten folgen, aber er ist dennoch
anregend und informativ. Dies gilt auch für die folgenden Einzelbeiträge der
Historiker. Frank-Lothar Gall schildert die Gründung des Königreichs Preußen
und seine Vorgeschichte in der Mark Brandenburg. Christopher Clark, dessen
letztes Jahr erschienenes Buch über Preußen mit Sicherheit zum Standardwerk
werden wird (wie in der informativen Literaturliste am Schluss des Bandes zu
recht vermerkt ist), untersucht Preußen zur Zeit Friedrichs des Großen, den er
- insgesamt eher wohlwollend - portraitiert. Harald Biermann sieht in der
Proklamantion des Deutschen Kaiserreiches 1871 den Schlusspunkt des Bündnisses
der Nationalbewegung mit Bismarcks Preußen nach der Revolution von 1848.
Heinrich August Winkler, Autor des fasznierenden Standardwerkes:
"Deutschlands langer Weg nach Westen" analysiert den verhängnisvollen
Einfluss der Junker in Kaiserreich und Weimarer Republik sowie die Pervertierung
preußischer Tugenden im Nationalsozialismus.
Doch es gibt auch Beiträge zur preußischen Kulturgeschichte. Günter de Bruyn
shcildert die bunte Literatenszene "von Herrscherlob und Kriegslyrik bis
zur nostalgischen Geschichtsverklärung", Susanne Beyer portraitiert die
faszinierende "preußische Salondame" Rahel von Varnhagen, Bettina
Musall die berühmte und legendäre Königin Luise.
Das Buch bietet eine - sicherlich nicht unumstrittene und durchaus zu
Kontroversen anregende - Überblicksdarstellung zu Preußen, die -
populärwissenschaftlich geschrieben - sich an Laien und Historiker wendet und
auch gut für Referate für Schüler in der Oberstufe geeignet ist.
Fazit
Natürlich kommt das Buch an Standardwerke wie Haffners: "Preußen ohne
Legende" oder Clarks: "Preußen" nicht heran. Diese sind
ausführlicher und schreiben chrnologisch eine Geschichte dieses Staates.
Dennoch ist dieses Buch stellenweise sogar informativer - weil es sich bemüht,
die zahllosen Fakten zu interpretieren und - unter Einbeziehung der neuesten
Forschungen über Preußen - einen fundierten Überblick auch über kontroverse
Themen - etwa die Frage der Kontinuität von Preußen zu Hitler - zu geben.
Daher als Einführung in jedem Fall eine hervorragende Wahl, die durch die oben
genannten Werke - und auch die Preußen-Darstellung von Hans-Joachim Schoeps -
dann ergänzt werden kann. Unbedingt lesenswert.
Vorgeschlagen von Bernhard Nowak
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veröffentlicht am 09. März 2008 2008-03-09 12:28:08