Anne Lewin hatte ihren Mann Jens gedrängt, aus Göttingen fortzuziehen und von
seinen Eltern den Deichkrug zu übernehmen, ihre Kneipe am Elbdeich in Stolpau.
Anne war ahnungslos, was sie 17 Jahre nach der Wende in einem Winkel der
ehemaligen DDR-Sperrzone erwarten würde; denn Jens hatte bisher kaum über
seine Jugend zu DDR-Zeiten gesprochen. Auch Jahre nach dem Fall der Mauer ist
der fiktive Ort Stolpau ein abgelegenes Kaff, begrenzt von der Elbe und einem an
einigen Stellen noch immer verminten Elbdeich.
Zu DDR-Zeiten lag Stolpau in der Sperrzone zu Westdeutschland, zwischen Deich,
Sperrzaun und dem Kolonnenweg der Grenzer, rund um die Uhr bewacht und
beobachtet von Soldaten der Nationalen Volksarmee. Vom Regime für
unzuverlässig erklärte Bewohner wurden umgesiedelt und ihre Häuser
abgerissen. Nur ein Abdruck auf der Wiese zwischen Lewins Dorfkrug und
Brüggemanns Haus erinnert heute noch daran, dass auf dem Grundstück früher
jemand gelebt hat. Die Besitzansprüche von Alt- und Neubesitzern auf diese
Wiese sind noch nicht geklärt.
Als Jugendlicher war Jens ganz in die Welt seiner Science-Fiction-Romane
eingetaucht, in deren Handlung er damals eine Abbildung der DDR-Wirklichkeit
sah. Mit einem subversiven Puppen-Theaterstück und seiner Hauptfigur
"Genosse Kasper" handelte Jens sich als Schüler erheblichen Ärger
ein. Eine besondere Beziehung verband den unangepassten jungen Mann mit dem
Außenseiter Petr, der in Stolpau in einer simplen Hütte hauste und mit einer
aus Pappschachteln konstruierten Camera Obscura unterwegs war.
Annes Idee, den Dorfkrug in Stolpau wieder zu eröffnen, wirkt reichlich
optimistisch; denn welche Gäste außer vier frauenlosen Männern würden in dem
abgelegenen kleinen Ort in eine Kneipe kommen? Gemeinsam mit Jens Eltern planen
Anne und Jens eine große Feier zur Neueröffnung. Während Jo Brüggemann sich
mit dem Problem herumschlägt, dass er während der Woche in Hamburg arbeitet
und eine Betreuung für seinen pflegebedürftigen Großvater organisieren muss,
leidet Jens in Stolpau unter zunehmender Schlaflosigkeit, hadert mit der
Vergangenheit und denen, die ihn damals denunziert haben. Gespannt verfolgt man,
wie Jens seine Verbindung zu Jo zu klären versucht, sich immer stärker
zurückzieht und sich schließlich seiner Frau entfremdet.
In Rückblenden und Erinnerungen der wortkargen Dorfbewohner überlagern sich
Gegenwart und Vergangenheit, Realität und Phantasie. In Stolpau wird wenig
gesprochen; aus unterschiedlichen Gründen gehen Nachbarn, Familienmitglieder
und auch Anne und Jens einander aus dem Weg. Wie alle anderen schweigen sich
auch Großvater, Vater und Sohn Brüggemann über ihre distanzierte Beziehung
zueinander aus. Ob Stolpau früher durch die Mauer von der Welt abgeschnitten
war oder heute unzugänglich in den Elbauen liegt, ob die Sprachlosigkeit
zwischen seinen Bewohnern in Ereignissen aus DDR-Zeiten oder in der Gegenwart
begründet ist, scheint belanglos.
Fazit
Vor einer düsteren Landschaft in schlammigen Farbtönen vermittelt Jan
Böttcher seinen Lesern das fein beobachtete Gesellschaftsbild eines Dorfes in
der norddeutschen Provinz.
Vorgeschlagen von Helga Buss
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veröffentlicht am 08. März 2008 2008-03-08 14:39:27