"Kairos" ist ein sehr bedeutender Begriff der griechischen Sprache.
Ursprünglich bedeutete er "rechter Augenblick", "günstiger
Zeitpunkt", aber auch das rechte Maß und den rechten Ort. Aufgeladen wurde
das Wort durch den protestantisch-sozialistischen Theologen Paul Tillich
(1886-1965) in den zwanziger Jahren. Er grenzte es von "chronos", der
unakzentuiert verlaufenden Zeit, ab. "Kairos" war für Tillich ein
Synonym des revolutionären Moments. Und wahrlich, Walter Benjamins hier
vorliegende Texte, kleinere Schriften und Briefe sind revolutionären und
konsequenten Inhalts.
Ralf Konersmann hat seine treffliche Auswahl von geschichtstheoretischen Texten,
Fragmenten und Briefen Walter Benjamins zu Recht mit dem Wort "Kairos"
betitelt, um damit womöglich das Benjaminsche Wort "Jetztzeit"
abzulösen. Dieses Wort nun spielte bei Benjamin eine dezidiert große Rolle. In
den Kunstwerken sieht er später Wahrheitsgehalt und Sachgehalt miteinander
verbunden. Er sieht in ihnen den verorteten Moment künstlerischer Entfaltung
des Einzelnen im Jetzt und im Hier. Wahrheit gelange dadurch zur Erscheinung.
Benjamin versteht diesen Prozeß als "Aura" von Kultwerten in der
Kunst und konstatiert analog zur Tendenz der entgrenzten Vermassung und zur
Standardisierung von Haltungen, Meinungen und Moden einen fortschreitenden
Verfall des Auratischen, mit dem die Kunst in den Dienst einer materialistischen
Entmythologisierung eintritt.
Walter Benjamin (1892-1940) studierte in Freiburg im Breisgau Philosophie,
Germanistik und Kunstgeschichte. Sein Einfluß auf die Philosophie und die
Kulturwissenschaft ist unermesslich. Da sein Werk sehr vielfältig ist, haben
die Auswahlbände der Reihe "suhrkamp taschenbuch wissenschaft", deren
wir hier einen Band vorliegen haben, einige theoretische Haupttexte thematisch
gebündelt. Kairos heißt also in diesem Zusammenhang: die richtige Stelle, die
man treffen muß. So verbindet sich hier die Bedeutung der richtigen Stelle
bereits mit dem richtigen Moment, dem Hier und Jetzt. Doch das Gewebe, das so
entsteht, ist für die Griechen das Werk, das Wirken der beiden streitenden
Brüder Zeus und Poseidon. Konersmann schreibt dazu in seinem Nachwort:
"Kairos ist ein Punkt, genauer: der richtige, der eine und einzigartige,
der intensive und im höchsten Maße normativ besetzt Punkt in Raum und
Zeit." (331) - also ein zentraler Fixpunkt von ebenso zentralem Inhalt.
Wir haben in diesem Buch nun auch akzentuiert zentrale Inhalte versammelt, so
etwa Benjamins Ausführungen über Gewalt, Sprache, Geschichtsphilosophie,
Erkenntnistheorie und Erkenntniskritik. Damit bekommt der philosophisch
interessierte Leser einen Querschnitt philosophisch zentraler Fragen und
Begriffe aus der Feder Benjamins geliefert. In "Zur Kritik der Gewalt"
heißt es z.B. in für Benjamins sensibler Natur charakteristischem Ton:
"So heilig der Mensch ist, (...), so wenig sind es seine Zustände, so
wenig ist es sein leibliches, durch Mitmenschen verletzliches Leben." (108)
- Das verletzliche Leben als ungeheiligte Disposition des Menschen. Ebenso
interessant etwa sind die Ausführungen zum Kapitalismus als Analogon zur
Religion: "Im Kapitalismus ist ein Religion zu erblicken, d.h. der
Kapitalismus dient essentiell der Befriedigung derselben Sorgen, Qualen,
Unruhen, auf die ehemals die so genannten Religionen Antwort gaben." (110)
Aber auch die Fragmente zur Sprachphilosophie (68ff.) und viele Briefe,
insbesondere ein recht ergebener an Martin Buber von 1916 (23ff.), bringen
endlich interessante Stellungnahmen Benjamins ans Licht und legen in ihrer
Vielfältigkeit Zeugnis für Benjamins Vorliebe zum Absoluten und seiner
sprachlichen Fixierung ab. "Philosophie ist absolute Erfahrung deduziert im
systematisch symbolischen Zusammenhang als Sprache." (43)
Die vorliegenden Erkenntnisse Benjamins sind Ergebnisse eines Erkenntnisakts sui
generis beim Autor, wie ihn Hans Blüher in seiner "Achse der Natur"
beschrieb: "Bei diesem Erkenntnisakt sui generis handelt es sich nicht etwa
um eine bevorzugte Erkenntnis der Charaktereigenschaften eines anderen, sondern
nur um das Einmalige, das diesen Eigenschaften zugrunde liegt. Also um das, was
einer ‚an und für sich’ oder ‚Er selbst an seinem eigenen Ort" ist,
d.h. um eine Erkenntnis, die es sonst nirgends gibt." (Hans Blüher, Die
Achse der Natur, zuletzt 2001, S.131) Da Benjamins charakterliche und geistige
Physiognomie einmalig ist, sind entsprechend auch seine aus ihr spießenden
Erkenntnisse in diesem Buch einmalig und wieder im Sinne des Kairos-Prinzips an
das "Jetzt", den eigenen Ort, geknüpft. Sie können so nirgends
anders vorkommen.
Fazit
Es ist dies deshalb ein Buch von gedanklicher Strenge mit dem Effekt eines
Schocks der Erkenntnis, der zugleich als heilsam empfunden wird.
Vorgeschlagen von Daniel Bigalke
[Profil]
veröffentlicht am 24. Februar 2008 2008-02-24 15:13:58