Daß die freiheitliche Tradition des Deutschen Idealismus oder überhaupt
jeglicher Philosophie transzendentaler Provenienz im angloamerikanischen Raum
stets verachtet wurde und zudem den pädagogischen Kreuzzug im Dienste der
"wahren Demokratie", die auf Erlernen und Erfahrung beruhe,
rechtfertigte, ist nichts Neues. Dabei meint transzendentale Philosophie und
Erkenntnistheorie nichts weiter, als eine solche Erkenntnis, die sich nicht
einfach nur mit den über die Erfahrung gegebenen Gegenständen
auseinandersetzt. Transzendentalphilosophie ist mit Kant die Idee einer
grandiosen Wissenschaft, wonach Vorstellung eben nicht nur empirischen Ursprungs
ist, sondern die Grenzen der Erfahrung überfliegt und dem Menschen per se
mitgegeben ist. Es ist gemeint eine Erkenntnisart, die a priori möglich ist,
d.h. die sich nicht mit den Gegenständen selbst sondern mit unseren Begriffen
von den Gegenständen beschäftigt.
Hingegen basieren amerikanische Studien zur deutschen transzendentalen
Philosophie auf einem massiven Ressentiment gegen diesen metaphysischen
Einschlag. John Dewey (1859-1952) ist Vorreiter einer solchen Position. Sie
propagierte insbesondere nach 1945 die moralische Überlegenheit amerikanischer
politischer Geisteshaltung gegenüber einem vermeintlich aggressiven
‚Sonderweg’ Deutschlands. Sie sollte die ‚Re-education’ vorbereiten.
(Vgl. Dewey, John 2000: Deutsche Philosophie und Deutsche Politik, hrsg. von
Axel Honneth, Berlin/Wien) Und dennoch! Deweys These, daß für die Krise der
NS-Barbarei der kantische transzendentale Vernunftidealismus mit seiner
Verabsolutierung von Pflicht im Sinne einer sie ausübenden Gemeinschaft
verantwortlich gewesen sei, ist recht einfach zu widerlegen, ging es Kant doch
gerade um ein sittliches Ideal, dessen Imperativ jeder a priori in sich trage.
Deweys methodische Gewaltsamkeit, welche die metaphysische Dimension durch einen
ausschließlichen Empirismus negiert, negiert damit die apriorische Tradition
deutscher Philosophie und wird selbst dogmatisch, weil sie nicht mehr selbst auf
primärer Erfahrung, sondern auf einer kultivierten Nichtoffenheit des
Ergebnisses von Philosophie beruht. Das scheint evident, wenn wir bedenken, daß
der politische Empirismus nach Hegels Tod selbst in Deutschland durchdrang, ohne
aber je den Kern des charakteristischen deutschen Apriorismus, seinen sittlichen
Imperativ, gänzlich aufzulösen.
"Erfahrung und Natur" ist das Hauptwerk Deweys. 1925 erschienen,
gehört es heute zu den klassischen Werken der Philosophie des 20. Jahrhunderts.
Hier entwirft Dewey seinen Instrumentalismus, der nicht nur die historischen
Ursprünge dualistischer Ideologien und Institutionen aufzudecken gedenkt,
sondern ihnen auch ganz explizit eine eigene "Philosophie der
Vermittlung" entgegensetzt: seinen "naturalistischen Humanismus".
Diese grundsätzlich veränderte Position gegenüber dem Erkennen und der
Realität habe ebenso grundsätzliche Veränderungen in der Auffassung vom
Leib-Seele-Problem, von der Rolle der ästhetischen Erfahrung, von der
menschlichen Sprache und der Geschichte zur Folge. Alle traditionellen Probleme
der Metaphysik müßten einer Revision unterworfen werden.
1925 erschienen, wird an Deweys Studie die verabsolutierte normative
Befangenheit angelsächsischer Philosophie und ihre Unfähigkeit zur Ganzheit
deutlich. Sie läuft dem Prinzip des normativen Ansatzes selbst zuwider, denn
Ganzheit bedeutet eine methodische Konvergenz von empirischer und normativer
Erkenntnis, von Erkenntnis aus Erfahrung und Erkenntnis auf der Basis des
"Sein-Sollenden". Die geistigen Konsequenzen dieses Denkens in
Deutschland prägen weithin das gegenwärtige Geistesleben - nicht zuletzt in
der Diskurs-Theorie Jürgen Habermas’. Gegenüber einer dergestalt
‚siegreichen’ gegen das transzendentale Denken zielenden Grundphilosophie
und damit auch gegen eine hegemonial praktizierte Demokratie-Interpretation, die
ein ewiges "Soll" im politischen Denken und Handeln vorgibt, (Dewey,
Demokratie und Erziehung, 1916) gilt es nach der Wirklichkeit zu fragen.
Das vorliegende Buch "Erfahrung und Natur" (zuerst 1925), ist
geeignet, Deweys Grundansatz nachzuvollziehen. Er schreibt selbst: "Ich bin
überzeugt, daß die Methode des empirischen Naturalismus, die in diesem Band
vorgestellt wird, den Weg und den einzigen Weg darstellt, (...), auf dem man den
Standpunkt und die Schlussfolgerungen der modernen Wissenschaft uneingeschränkt
akzeptieren kann." (8) Ein ernsthafter Philosoph wird zwar intuitiv
skeptisch, wenn es um "einzige Wege" geht. In ihm bäumt sich der
Widerstand gegen Haltungen auf, die rufen: "Folgt mir nach, und ihr seid
gerettet!" Dazu ist die Welt wahrlich zu komplex. Gewiß ist es sehr
missverständlich bei Dewey, von "Instrumentalismus" zu sprechen. Zwar
bedeutet der Ausdruck bei ihm eher so etwas wie "Vermittlung", dennoch
scheint sein Anspruch recht einseitig. Diese "Philosophie der
Vermittlung" mag eine gute alte europäische Verwandtschaft zu Hegel und
Schopenhauer aufweisen, sie ist dennoch zutiefst
mit der Unterminierung der Metaphysik, der abendländischen Herzkammer der
Philosophie, befasst und erkennt dabei nicht, daß dies immer auch einer
Unterminierung der Philosophie und ihrer Urfragen selbst gleichkommt.
In unserer Welt, einer Welt im Werden, hat das Erkennen für Dewey eine
vermittelnde Funktion, es ist ein Experiment, das versucht, eine problematische
Situation beherrschbar zu machen. Er sieht in der Vorstellung einer Trennung des
betrachtenden Subjekts von einer an sich bestehenden objektiven Welt nichts
anderes als den Ausdruck einer dualistischen Ideologie vorwissenschaftlicher und
- natürlich darf dies nicht fehlen - "vordemokratischer"
Klassengesellschaften. Zugleich negiert Dewey damit grade das tragische und
treibende Moment innerhalb dieser Dissoziation in der Philosophie, die nicht nur
in vorbildlicher "Demokratie" gipfeln darf, sondern auch einer
Erkenntnistheorie des wissenschaftlichen Pessimismus und des Leidens Rechnung zu
tragen hat.
Diese beschrieb Hieronymus Lorm einmalig und gerade im Gegensatz zu Dewey
folgendermaßen: "Der Charakter der Erkenntnistheorie ist die absolute
Trennung von Erscheinung und Ding an sich oder von Sein und Denken, (...). Diese
absolute Trennung ist ein Zustand von tragischer Beschaffenheit, denn er geht
wie ein Bruch durch den Begriff der Welt (...) und bedingt für den einzelnen
das Bewußtsein eines Mangels, eines Leids, eines unversöhnlichen
Zwiespalts." (Hieronymus Lorm, Der grundlose Optimismus, 1894, S. 163) Der
Bruch zwischen Subjekt und Objekt sollte anerkannt werden und als Basis einer
stets im Denken vorantreibenden Subjekt-Objekt-Korrelation in der Erkenntnis
erscheinen. Es gibt keine absoluten Lösungen. - Bei Dewey dem Anspruch nach
schon.
Sein "Instrumentalismus", wie er ihn hier darlegt, wird damit und mit
seiner Dekonstruktion philosophischer Grundfragen selbst dogmatisch. Seine
"Philosophie der Vermittlung" zwischen den Dualismen ist zudem weniger
synthetisch kraftvoll, als es gerade das synthetische Potential transzendentaler
Philosophie ist. Seine Methode weiß daher auch, daß sie viele geschätzte
Dinge zerstöre, weil sie Natur und Erfahrung nicht trennt, kann damit aber
nicht erklären, warum Erkenntnisse über ein und dieselbe empirische Sache im
Bewußtsein des Menschen kontextuell variieren können. Es geht also nicht ohne
die transzendentale Ebene der Erkenntnistheorie, nicht ohne den subjektiven und
vom Objekt entkoppelten Begriff von den Dingen, dem Dewey vergnüglich vorwirft,
er habe dazu beigetragen, die Möglichkeit der alltäglichen Erfahrung zu
verdunkeln.
Dewey schreibt: "Den ernstesten Vorwurf, den man gegen nicht-empirische
Philosophien vorbringen kann, ist der, daß sie die Dinge der gewöhnlichen
Erfahrung in eine Wolke eingehüllt haben." (53) Der Leser des vorliegenden
Buches hofft hingegen bei jeder Seite, daß nicht mit Dewey die Grundfragen
jeglichen Philosophierens, die an einer gewissen Stelle immer transzendentalen
Charakters sind, einseitig und geschäftsbeflissen-pragmatisch in eine
angelsächsische Wolke des totalen Empirismus gehüllt werden.
Fazit
Deweys Respekt vor der konkreten menschlichen Erfahrung hätte, um ernstgenommen
zu werden, besser nicht in der Verachtung eines philosophischen
Komplementärteils, nämlich der Transzendentalphilosophie, gipfeln sollen!
Vorgeschlagen von Daniel Bigalke
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veröffentlicht am 23. Februar 2008 2008-02-23 14:33:51