Das vorliegende Buch behandelt den Ausnahmezustand als herrschendes Paradigma
gegenwärtiger Politik. Es ist weithin bekannt, daß der Parlamentarische Rat
bei der Schöpfung des nachkriegsdemokratischen Grundgesetzes Konsequenzen aus
der Weimarer Reichsverfassung (WRV) zog. Der Parlamentarische Rat wollte mit der
Notstandsgesetzgebung einen funktionstüchtigen Parlamentarismus errichten. Das
Grundgesetz war damit der erste Schritt, der daraus die Lehre zog, daß die
Notstandgesetzgebung einst tragender Pfeiler der Präsidialregierung der WRV
beim Übergang zum Nationalsozialismus im Januar 1933 war. Die enge Bindung von
Parlament und Regierung auch im derartigen Notstand sollte das Parlament
anregen, seine Funktionen zu erfüllen, damit die Ausnahme eben nicht wieder zur
Regel werde, denn die Ermächtigungsgesetzgebung und Machtfülle der exekutiven
Gewalt ebneten einst den Weg in die legale zwölfjährige Diktatur.
Die Kompetenzen des Reichspräsidenten wurden in der Nachkriegsdemokratie neu
zwischen der Bundesregierung und dem Parlament aufgeteilt. Es entsteht eine neue
Gegenspielerschaft: Diejenige von Präsident vs. Parlament aus der Weimarer Zeit
wurde ersetzt mit derjenigen von Kanzler vs. Parlament aus der Gegenwart, das
wohlbekannte Kanzlerprinzip. Die Staatsexekutive der Bundesrepublik trägt damit
der Ausnahme Rechnung und hat das modernste Grundgesetz, zumindest in der Zeit
von dessen Entstehung. Giorgio Agamben sieht in seinem Buch "Der
Ausnahmezustand" den Ausnahmezustand als Schnittpunkt zwischen Politischem
und Juristischem. Er bringt dafür ein Beispiel. Die Notverordnung von 1933
wurde nie widerrufen, so daß das Dritte Reich juristisch als gesamter
Ausnahmezustand zu betrachten sei, der sich 12 Jahre hinzog. Der Ausnahmezustand
sei das herrschende Paradigma des Regierens in Zeiten des heutigen
Weltbürgerkrieges. Er gehe erneut einher mit der Vollmacht, d.h. der Ausdehnung
der Regierungsbefugnisse auf die Exekutive, welche Erlasse erteilt, die
Gesetzeskraft haben. Es ist für Agamben eine Handlungsmodalität der
Exekutivgewalt, die jetzt wieder zu einer verfassungsmäßigen Diktatur werden
kann. De facto ist die fortschreitende Zersetzung der Legislativkraft des
Parlaments, das sich heute darauf beschränkt, Anordnungen der Exekutive durch
erlasse mit Gesetzeskraft zu ratifizieren, zu einer Praxis geworden, die den
Wähler tendenziell entmündigt. Sie bringt zugleich die Entwicklung mit sich,
daß kurzfristige Noterlasse, Versammlungsverbote, Bannmeilen, erstrebte
Parteienverbote und Feindesproklamationen etc. das Bild der deutschen
Tagespolitik prägen.
Das vorliegende Buch liest sich als Abhandlung über das permanent vorhandene
Risiko des Verfassungsumschlages. Die Anwendung der grundgesetzlichen Norm wird
in einem solchen Fall suspendiert. Sie ist nur noch möglich im Rahmen dessen,
sie zugleich auszusetzen und eine Ausnahme zu machen - Meinungsfreiheit,
Versammlungsfreiheit, das Verbot einer Zensur und die Pressefreiheit werden zur
Farce. Die grundgesetzlich verbrieften Freiheiten stehen unter Parteien- oder
Gesinnungsvorbehalt.
Interessant ist es zu lesen, wie bei Agamben der vom Staat forcierte
Ausnahmezustand konkret immer auch zum Zustand der höchsten Spannung zwischen
Anpassung an staatliche Vorgaben unter Selbstpreisgabe und dem mißliebig
beäugten Willen des Einzelnen, die eigene politische Erfahrung zu machen,
gesehen wird. Bedenken wir, daß sich diese Spannung gewiss zuspitzen wird und
es am Ende immer zu einer Entscheidung kommt, die sich danach richtet, daß
politische Wahrheit indessen nur solches Handeln beanspruchen kann, das am Ende
den notstandsgesetzlich konstruierten Bezug zwischen staatlicher Gewalt und
natürlichem Recht ausschaltet, so ist das vorliegende Buch sehr wichtig.
Es beweist, daß das liberal-parlamentarische Modell, soweit es die Tendenz zum
Ausnahmezustand hat, ab einer gewissen Stelle das Gerechtigkeitsproblem nicht
mehr lösen kann. Die Verantwortung des Staates hat sich auf die gesamte
Gesellschaft ausgeweitet. Die hoheitliche Position desselben degeneriert zum
freiwilligen Folgeleistungsverhältnis wobei die staatliche Sicherung von
Freiheit und Recht abhängig werden von der Mittelverteilung des Staates. Da
aber Komplexität in Politik und Denken nicht dauerhaft normierbar ist, auch
nicht über die Intervention von Ausnahmeregelungen und sozialer Mittel, folgt
bei einer Demokratie, die nicht mehr die Ebene des Wollens ihrer Bürger an die
Legislative vermittelt und nicht durch andere Werte zusammengehalten wird,
notwendig der Selbstzusammenbruch. -
Fazit
Ein mutiges aber längst notwendiges Buch von realpolitischem Belang!
Vorgeschlagen von Daniel Bigalke
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veröffentlicht am 10. Februar 2008 2008-02-10 14:57:54