Beinahe hatten wir schon vergessen, dass West-Berlin vor der Wende Fluchtpunkt
unangepasster Existenzen aus West und Ost war. Neu-Berliner aus dem Westen zog
es fort aus provinziellen Kleinstädten, besonders dann, wenn ein
Musterungsbescheid zu erwarten war. Republik-Flüchtlinge aus der DDR wollten
sozialistischem Schlendrian, Mangelwirtschaft und Bespitzelung entkommen. Sie
absolvierten eine bürokratisch korrekte Zwischenstation im Lager Marienfelde,
bevor sie sich endgültig im Westen niederlassen konnten. Über Marienfelde ist
auch Soja in den Westen gelangt. Sie schlägt sich als Blumenverkäuferin durch
und hofft auf eine vom Arbeitsamt geförderte Fortbildung. Soja hat ein Heft mit
Tagebuchaufzeichnungen gefunden, hinterlassen von Harry, den sie in den 80ern
liebte. In Harrys geschönter Fassung der Ereignisse kommt Soja auf keiner
Seite vor. Die Übergangene ergänzt die fehlenden Farbtöne in Harrys Heft mit
eigenen Erinnerungen zur kompletten Geschichte. Durch einen gemeinsamen Freund
hatte Soja Harry kennen gelernt, ohne zu ahnen, dass er drogenabhängiger
entlassener Strafgefangener ist. Als Bewährungsauflage hat Sojas neue Flamme
sich einer Therapie zu unterziehen. Harrys Therapeut handelt ganz und gar nicht
bescheiden: Er forderte von Soja, in ihrem Freundeskreis eine Gruppe
freiwilliger Helfer in Bewegung zu setzten, die gegen eine geringe
Fahrtkostenerstattung Harry rund um die Uhr beaufsichtigen und sein Erscheinen
beim Therapeuten sicherzustellen haben. Soja schafft das Unerwartete und
mobilisiert eine Truppe von Idealisten; sie selbst versorgt den Junkie
aufopferungsvoll. Doch Harry hält Soja weiter auf Distanz, spielt sein eigenes
Spiel mit ihr. Harrys verächtliches Verhalten scheint Soja nur noch enger an
ihn zu binden.
Fazit
"Böse Schafe" ist eine verhaltene Liebesgeschichte, die nach dem
Lesen lange nachklingt und die Frage aufwirft, warum Frauen sich gerade in die
kaputten Typen verlieben. Aus heutiger Sicht mag das brave, naive Mädchen aus
der Provinz befremden, das in einer Liebesbeziehung nur sieht, was es sehen
möchte. Frauen wie Soja, die nicht aufmuckten, anderen Menschen nie Grenzen
setzten, sind für die idealisierten 70er Jahre ebenso typisch wie eloquente
Studentenführer. Katja Lange-Müller schildert die hilflose Helferin als Kind
ihrer Zeit und zeichnet authentisch die Atmosphäre der geteilten Hauptstadt in
der Vor-Wendezeit. Die Autorin führt ihre Leser in heruntergekommene Gemäuer
und trostlose Krankenzimmer, die sie frei von Illusionen und Klischees
beschreibt.
Vorgeschlagen von Helga Buss
[Profil]
veröffentlicht am 15. Januar 2008 2008-01-15 09:47:07