"Die Menschheit befindet sich auf halbem Wege zwischen den Göttern und den
Tieren." - Auf diese Aussage Plotins verwies der Philosoph Ken Wilber
bereits 1997 in seinem Buch "Halbzeit der Evolution", in dem er
nachweist, daß dem Menschen noch eine weitere Evolution seines Bewußtseins
bevorstehe. (Ken Wilber, Halbzeit der Evolution. Der Mensch auf dem Weg vom
animalischen zum kosmischen Bewußtsein, Frankfurt/M., S. 7) Mit seinem neuen
hier vorliegenden Buch denkt Wilber seine These in den Bereich der
Spiritualität hinein weiter, denn er prophezeit entsprechend jetzt, daß auf
dem Wege der Höherentwicklung des menschlichen Bewußtseins die Entwicklung
spiritueller Intelligenz unabdingbar ist.
Seit gut 20 Jahren ist die Descartes’sche Interpretation von
"Selbst" und "Bewußtsein" in vielen Bereichen auf dem
Rückmarsch. Schlagworte wie "Metaphysik" oder "New Age"
beeinflussten bereits in den 1980er Jahren das Denken zahlreicher Skeptiker der
herkömmlichen philosophischen oder naturwissenschaftlichen Branchen. Wilber
befaßt sich nun konsequent mit der abschließenden Zusammenführung von
Philosophie, Religion und Naturwissenschaft zu einer ernstzunehmenden
Gesamtwissenschaft. Er stellt dabei die Bedeutung von Spiritualität in den
Vordergrund. Seine diesbezügliche Denkrichtung ist als "Integrale
Theorie" bekannt, als deren Manifest dieses Buch jetzt gelten kann.
Integrale Spiritualität soll - so Wilber - die Welt retten können. Er stellt
dar, wie die Erleuchtung der östlichen Religionen vortrefflich kombiniert
werden kann mit der Aufklärung des Westens, wie sie in der
Entwicklungspsychologie zum Ausdruck kommt. Es bestätigt sich damit etwas,
wofür Wilber steht: Es ist schon oft seine Leistung gewesen, höhere,
spirituelle Bewußtseinszustände empirisch-wissenschaftlich zu untersuchen und
zu gliedern - gerade unter Verwendung östlicher und westlicher spiritueller
Schriften. Dies ist in der Tat ein lobenswerter und vor allem interessanter
Ansatz, der sich in diesem Buch wieder bestätigt. Das neue Buch "Integrale
Spiritualität" ist damit zugleich - wie bereits angedeutet - Fortsetzung
und Bilanz seines Denkens: Bilanz, weil Wilber im ersten Teil nochmals sein
früher schon entwickeltes Denkmodell (AQAL) erläutert (277), was vor allem
für Erstleser von Vorteil ist; Fortsetzung, weil er das Modell durch weitere
Dimensionen - eben die der Spiritualität - ausbaut.
AQAL ist sein theoretischer Ansatz zur Erfassung der Wirklichkeit. Wilbers
Bewußtseins-Modell wird dadurch komplex und vernetzt. Es wird zu einem
integralen Bewußtseins-System (279), das die Welt erfaßt, denn heute ist die
Welt der Form nach enorm mannigfaltig, und sie entwickelt und entfaltet sich
immer weiter. So muß sich die von ihm beschriebene Erleuchtung in gewissem
Sinne in der Welt der Form, die sich ständig verändert, widerspiegeln. Es geht
also darum, beides in einem integralen Bewusstsein zu vereinen und auch
systematisch zu verkörpern.
Ein interessanter neuer Aspekt ist der Beziehungsraster zwischen evolutionärem
geistesgeschichtlichem und spirituellem Bewusstsein. Die Erleuchtung ist ein
mehrphasiger Prozeß, der je nach Entwicklungsstufe des Einzelnen differenziert
ist. D i e Erleuchtung als solche gibt es also nicht, ebensowenig wie d e n Weg
als solchen. Auch der Erleuchtete muß sich noch weiterentwickeln, z.B.
horizontal (Einswerden mit allen Zuständen), wie vertikal (Einswerden mit allen
Stufen). Damit bietet das Buch Wilbers interessante Definition der Erleuchtung
als "Verwirklichung des Einsseins mit allen Hauptstufen und Hauptstrukturen
(...)" dar. (337) Durch den integralen Ansatz bekommt auch Gott eine
umfassende zeitlich evolutionäre Gestalt. Der Autor zeigt, daß Einheit und
Dualität unlösbar miteinander verbunden sind. Im 10. Kapitel schlägt er eine
Brücke zur Praxis. Er schreibt über die integrale Lebenspraxis jedes
Einzelnen, welche die Ethik, Sex, Arbeit, Emotionen und Beziehungen umfaßt.
(281)
Ken Wilber als bedeutender Vertreter der Integralen Philosophie und
Spiritualität bearbeitet hier also Geistes- und Naturwissenschaften ebenso wie
die Psychologie und das universelle Wissen der älteren Weisheitslehren. Das
Buch ist Ergebnis seines in den letzten Jahren entwickelten integralen Modells,
mit dessen Hilfe sich das ewig gültige Wissen, auch philsophia perennis
genannt, auf alle Lebensbereiche anwenden läßt. Inmitten einer spezialistisch
aufgesplitterten Philosophie- und Psychologieszene hat er auch hier wieder das
Verdienst, das Ganze zu betrachten und konsequent zu denken. Er schließt damit
von empirischen Forschungsergebnissen und einer New-Age-Mentalität her an die
Tradition der philosophia perennis an und geht mit seinem "integralen"
Denken über bisherige Grenzziehungen hinaus. Freilich ist eine solche
Re-Integration ein anspruchsvolles Vorhaben. Und so bleiben einige
Unstimmigkeiten beim Leser bestehen, auf die bisher trefflich der
Sozialphilosoph Johannes Heinrichs hinwies und deren hier eine wesentliche
benannt werden muß. (Johannes Heinrichs, Im Dialog über die Seele.
Transpersonale Psychologie und christlicher Glaube, hrsg. von Michael
Utsch/Johannes Fischer, LIT Verlag, Münster 2003, 77-112)
Wenn Wilber behauptet, daß das "Ich" oder das "Selbst"
überhaupt eine bloße Objektivierung sei oder das "Selbst zum Objekt in
meinem Bewußtsein" (180) werden könne, geht er nicht nur an der Einsicht
des Augustinus und des Thomas von Aquin ("reditio completa in seipsum"
- vollständige Rückkehr in sich selbst) vorbei, sondern auch an der
systembildenden Grundeinsicht des traditionellen und von ihm geschätzten
deutschen Idealismus, den er doch mit Hegel würdigt. (299) Das "Ich"
ist vielmehr ein Vollzug, ein Tun, das ein Auge in sich birgt; es ist das Auge,
das sich selbst sieht. Eben an dieser selbstbezüglichen (reflexiven) Einheit
von Erkanntem und Erkennendem zerschellt der zweiwertige Dualismus von Subjekt
und Objekt, dessen Versatzstücke Wilber auch im vorliegenden Buch noch
vertritt. Reflexion - so auch Johannes Heinrichs - ist eben nicht bloß
nachträglich-objektivierende ("nach-denkende"), sondern eine
vorgängig gelebte, innere Reflexion. Und diese Reflexion ist konstitutiv für
das Selbst oder die Person. Hier zeigt sich, daß Wilber sich nicht
ausschließlich der Illusion hingeben sollte, alleiniger Apostel des
"integralen" Denkens zu sein. Er steht auch neben Heinrichs und den
berühmten Theosophen (H. P. Blavatsky, A. Bailey u.a.), die punktuell und in
gewissen Bereichen ungleich weiter und tiefer gehen als Wilber. Wilber selbst
bleibt manchmal trotz seines beanspruchten Integralismus in gelegentlichen
Ausführungen über die politischen Richtungen wie Liberalismus oder
Konservatismus (bzw. Kommunitarismus) und seine entsprechenden Syntheseversuche
immer noch einem überholten Links-Rechts-Schema verhaftet.
Dennoch ist das vorliegende Buch für Einsteiger in sein Werk und Kenner seines
Denkens sehr begrüßenswert. Es zeigt die Komponenten der integralen
Lebenspraxis (Körper, Verstand und Geist) auf (277) und plädiert für den
Wechsel von der alten Metaphysik hin zu "Integraler Post-Metaphysik"
(363). Seine Erklärung: Die Moderne reduzierte die Ebenen des Selbst (Körper,
Verstand, Seele, Geist) auf die unterste Ebene - die des Körpers oder auf rein
physische Realitäten. Die Lösung liege also in der Reaktivierung der älteren
Weisheitstraditionen. (365) Dabei betont er gerade, daß die objektiven Ebenen
der Realität vom erkennenden Subjekt mit erschaffen werden, wobei wir unsere
Zweifel an seiner These, daß das "Ich" selbst eine bloße
Objektivierung sei, bereits anbrachten. Alle Ebenen der Realität jedenfalls
sind in Wilbers Post-Metaphysik mit den Ebenen des Selbst verbunden. In der
alten metaphysischen Tradition hingegen befand sich der Betrachter oftmals an
einer von allem entkoppelten Stelle oder Ebene. Seine neue Post-Metaphysik
"ersetzt Wahrnehmung durch Perspektiven und definiert (...) das manifeste
Reich neu als Reich der Perspektiven." (68)
Mit diesem Buch hat Wilber - freilich nur in seinem eigenen Referenzrahmen -
sein Ziel erreicht, die Spiritualität von einer metaphysischen Betrachtung zu
lösen und sie zu einer integralen Erkenntnistheorie zu wandeln. Für alle an
wirklicher Spiritualität Interessierten sowie für fortschrittliche uns
selbständige Philosophen in Beruf, Alltag und Universität ist es deshalb ein
Muß.
Fazit
Der vom Autor proklamierte Beginn eines postmetaphysischen Zeitalters als
integrales Zeitalter (368) ist in jedem Fall des Erwägens und einer Lektüre
wert, denn betroffen kann jeder Einzelne, wenn er selbst denkt, sein. "Der
neue Mensch ist integral und das gilt auch für seine Spiritualität."
(Wilber)
Vorgeschlagen von Daniel Bigalke
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veröffentlicht am 04. Januar 2008 2008-01-04 13:38:02