Der Titel dieses Buches hätte nicht "Berliner Kindheit um 1900"
lauten sollen, sondern vielmehr "Lyrisch-philosophische Betrachtungen zu
einer Berliner Kindheit um 1900", denn dieses Buch, Walter Benjamins
Kindheitsbuch, ist eine sehr feinfühlige autobiographische Schrift, die sich
als Schlüsseltext der Moderne durch eine enorm lyrisch-philosophische Sprache
auszeichnet. Es geht darin eigentlich um tiefgehendere philosophische Fragen und
Reflexionen, als es der Titel verheißt. Das Gesetz des Ortes spielt eine Rolle,
denn Benjamins eigene Identitätskrise scheint die treibende Kraft hinter den
vorliegenden Prosaminiaturen zu sein. Und in der Tat: Wer Benjamins andere
Schriften kennt weiß, daß es ihm stets um eine Verortung seines Geistes als
deutsch, französisch, jüdisch, kommunistisch oder spezifischer - wie hier -
als "berlinerisch" ging.
Damit ist das vorliegende Buch zugleich Ausdruck der Tragik dieses Ringens um
Identität, denn es ist getränkt vom Gefühl der Sehnsucht und der Erkenntnis
von der Unwiederbringlichkeit des Vergangenen - Gefühle, deren philosophische
Einordnung infolge konsequenter Selbstreflexion kaum jemand anders hätte besser
ausdrücken können, als der von Zerrissenheit gepeinigte Benjamin auf der Suche
nach seinem ihm gemäßen Ort in der Welt.
"Walter Benjamin hat, anders als die Protagonisten der Frankfurter Schule,
sein ganzes Leben hindurch gegen die entortende Strömung angekämpft, von der
er sich ergriffen fühlte." (Hans-Dietrich Sander, Die Auflösung aller
Dinge, Zur geschichtlichen Lage des Judentums in der Moderne, München, 1988, S.
66) In diesem Buch beschreibt Benjamin seine Kindheit im Berlin der
Jahrhundertwende. Sein treibendes Motiv ist deshalb die dezidierte Verortung
seiner selbst. Es sind ästhetische Erinnerungen an eine Großstadt-Kindheit in
wohlhabendem, jüdisch-bürgerlichem Milieu - zugleich geprägt von einer
subtilen Trauer. Wir können deshalb mit Recht von einer ästhetischen Tragik
sprechen. Der Leser erhält intime Einblicke in das Schlafzimmer eines kranken
Kindes oder Bilder von Odysseen durch Berliner Gärten und Parks. Zu Recht gilt
diese Sammlung von Momentaufnahmen aus der Kindheit im Kaiserreich - freilich
auch neben Oswald Spenglers erstmals herausgegebenen autobiographischen
Kindheits-Rückblenden derselben Zeit unter dem Titel "Eis heauton"
(Lilienfeld Verlag, 2007) - als eine der eindrücklichsten deutschsprachigen
Autobiografien.
Herausgegeben wurde der vorliegende Band von Rolf Tiedemann. Benjamin hat von
1932 bis 1938 an der "Berliner Kindheit" gearbeitet, aber keine der
vielen Fassungen lag für eine erste Buchausgabe vor, die Theodor W. Adorno 1950
nur aus verschiedenen Manuskripten, Typoskripten und Teilabdrucken
zusammenstellte. Erst 1981 wurde in der Bibliotheque Nationale in Paris ein
Typoskript der 1938 entstandenen Fassung letzter Hand wiedergefunden, die
Benjamin dort durch Georges Bataille verstecken ließ. Benjamins hier
vorliegende Kindheits-Trümmer aus der Vogelperspektive sind das Ergebnis der
Verwendung dieses ersten direkten Typoskripts letzter Hand mit Benjamins selbst
vorgesehener Vorgabe der Anordnung der einzelnen Prosa-Erinnerungsstücke. In
diesem Band sind sie in dieser originären Fassung das allererste Mal
publiziert.
Es lassen sich damit erstmals - aufgrund der heute endlich vorliegenden Ausgaben
Benjamins und Spenglers - Parallelen zwischen beiden ziehen. Was in Oswald
Spenglers autobiographischem Rückblick die Angst und der Ekel war, ist bei
Benjamin die Sehnsucht nach der Geborgenheit. Und so scheint die Autobiographie
eines Philosophen mit seinen subjektiven emotionalen Zuständen immer auch der
Spiegel des Werkes dieses Philosophen zu sein. Man findet nämlich
Versatzstücke der Spengler-Autobiographie ebenso in seinem Werk "Der
Untergang" (1917) wieder, wie man Benjamins autobiographische Motive in
seinen Schriften "Aura und Reflexion" oder "Das Kunstwerk"
(1936) erkennt.
Autobiographien dienen damit als Schlüssel zum Werk selbst. So auch die
"Berliner Kindheit" Benjamins, dessen, Motive sich nunmehr recht
schnell darbieten: Ferne Welten waren ihm fremd, heimatliche Bilder nicht. Diese
Bilder waren das Objekt seiner Sehnsucht und scheinen dem Buch überhaupt erst
den Titel gegeben zu haben. "Es kam vor, daß die Sehnsucht, die sie
erweckten, nicht in das Unbekannte, sondern nach Hause rief." (15)
Verbunden mit der "Hoffnung, die ich auf Stellung und ein sicheres Brot
gehegt hatte" (30) und "untröstliche[m] Schmerz" (47) spricht
hier eine sensible Persönlichkeit über sich und ihre Stadt - und zwar in
bisher auch für viele andere Dichter und Philosophen ergreifenden Worten. So
etwa für den Dichter Rolf Schilling: "Benjamin, ‚Berliner Kindheit um
1900’ - ich war angetan, ohne doch den Eindruck des Prätentiösen, des nicht
aus innerem Zwang, sondern aus secundären Gründen Geschriebenen ganz zu
verlieren. Verwandtschaft mit Jünger, auch in den Schwächen, nun, es ist eine
Generation, eine Welt. Dies wird uns heute deutlicher als es ihnen selber um
1930 war. -" (Rolf Schilling, Refugium. Erstes Buch, München, 1995, S.
42)
Und wahrlich, Benjamin als Vertreter seiner Generation hatte seine Gründe, in
seinem Buch von der Geborgenheit in elterlicher und großmütterlicher Wohnung
(50) oder von seinen Träumen, mit denen er sich "Geborgenheit
erkaufte"(51), zu schreiben. Er erinnert sich damit an seine eigene und
längst vergangene Welt. Geradezu amüsant ist zu lesen, daß er z.B. als Kind
hörte, wie die Leute seine Mutter mit "Nähfrau" ansprachen, was sich
später als "gnädige Frau" (71) im Gehör des Kindes korrigierte.
Dennoch hielt Benjamin, wie er schreibt, im Worte "Nähfrau" die
Machtvollkommenheit der Mutter als eindeutiger bekundet. Eine der
philosophischen Urfragen als einzig übrige Frage zur Welt stellte er sich
bereits in der Kindheit: "Warum denn etwas auf der Welt, warum die Welt
sei?" (75) - Ihr Nichtsein schien für Benjamin keinen Deut fragwürdiger,
dennoch ergriff ihn die Verlassenheit angesichts dieser Frage - eine Urfrage an
den Menschen, an den potentiellen Philosophen, die sich demselben zumeist schon
in seiner Kindheit stellt. Bei Benjamin war dies so, und es ist erfreulich,
solche und viele weitere Details seines Denkens jetzt ergründen zu können.
Fazit
Das vorliegende autobiographische Buch legt Zeugnis von der Gewalt des Schmerzes
ab. Es zeigt die Ideenwelt und die emotionale Anatomie eines Kindes auf, das
schon recht früh trotz wohlhabendem Elternhaus in Schule, Familie und Beruf
sehr einsam war und sich zeitlebens auf der Suche nach einem Hort der Ruhe, der
Sicherheit und der heimatlichen Geborgenheit befand.
Vorgeschlagen von Daniel Bigalke
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veröffentlicht am 03. Januar 2008 2008-01-03 18:18:25