Der Philosoph und Schriftsteller Hans Blüher (1888-1955) ist kaum mehr bekannt.
Er schrieb die erste Geschichte des "Wandervogels" und war seinerzeit
vor allem bekannt durch seine überzeugende theoretische Verknüpfung der
sozialen Erscheinungsformen des Männerbundes und der damals noch neuen
Jugendbewegung. Vom Nationalsozialismus angewidert zog er sich zunehmend in die
Isolation zurück und verurteilte Hitler mit scharfen Worten. Das Standardwerk
zur "Konservativen Revolution", zu deren Vertreter Blüher gehört,
stellt entsprechend bis heute fest: "Von einer Rezeption Blühers (...)
kann allerdings nur bedingt gesprochen werden." (Armin Mohler/Karlheinz
Weißmann: Die konservative Revolution in Deutschland 1918-1932. Ein Handbuch,
erweiterte 6. Auflage, 2005, S. 170) Und es gibt in der Tat keine schriftlich
aufgearbeitete Wirkungsgeschichte und auch keine Monographie über diesen
spannend zu lesenden Autoren. Diese auszuarbeiten bleibt eine dringend zu
füllende Lücke. Die Sekundärliteratur besteht vorrangig aus
ressentimentgeladenen und damit wenig wissenschaftlichen Polemiken, die zu
seiner Zeit erschienen. In der Polemik gegen Blühers Theorie des Eros kam
jedoch das vorliegende Werk hingegen bis heute definitiv zu kurz.
"Die Achse der Natur" (1949) entstand in Blühers Zeit seiner inneren
Emigration. Es ist eines der schönsten philosophischen Werke des Autors, wenn
nicht gar der Philosophie überhaupt. Im Gegensatz zum Frühwerk stellt das
vorliegende Buch ein kaum bekanntes Opus Magnum dar, welches ein auf über 600
Seiten angelegter überzeugender Versuch ist, den Subjektivismus der Moderne,
ihren grenzenlosen Anthropozentrismus, philosophisch zu überwinden. Es steht
damit von seiner Bedeutung her noch vor der später erschienenen Ausgabe seines
1926 zuerst erschienenen Buches "Traktat über die Heilkunde" (1950) -
eine Metaphysik der Neurose mit Bezügen zur Psychoanalyse und Homöopathie. Das
Buch "Die Achse der Natur" in der vorliegenden ersten Neuauflage seit
1949 also enthält nun ein sehr interessantes Vorwort. Zudem ist diese Ausgabe
deshalb sehr wichtig, weil das Buch damit erstmals wieder zugänglich ist. Die
Erstausgabe von 1949 nämlich ist kaum noch zu finden oder sehr teuer. Doch
jetzt zum Inhalt.
Der Inhalt des Buches ist genau der Inhalt des Titels. Blüher vertritt die
These, daß die Natur ebenso wie die Erde eine Achse hat. Dies ist nicht
schwärmerisch oder romantisch zu verstehen, sondern exakt im Sinne der
transzendentalen Logik, was der Autor dann auch raffiniert zu beweisen befähigt
ist. Er schreibt dazu - und wir zitieren jetzt die erste Auflage von 1949:
"Es handelt sich hier nicht um eine "tiefere Einsicht" oder eine
"Vertiefung" der Natur, (...), vielmehr um die Anwendung der
Tiefendimension auf das Denken über die Natur, wobei die empirische Außen- und
Innenwelt die "Fläche der Natur" oder die erste und zweite Dimension
sind. Dieses Denken über die Natur ist aber nicht willkürlich sondern
notwendig." (Hans Blüher, Die Achse der Natur, Hamburg-Bergedorf, 1949, S.
120)
Blühers entsprechende Formel lautet also: Natur ist ein transzendentales
Kontinuum. "Sie hat eine Achse, deren einer Pol im transzendentalen Subjekt
verankert liegt, der andere im transzendentalen Objekt." (Ebd., S. 120)
Damit bestätigt er etwas, das Schopenhauer bereits als Ergänzung oder Kritik
zu Kants Kopernikanischer Wende feststellte. Blüher meint, Schopenhauer habe
ein völlig richtiges Auge für die Natur gehabt, welches Kant gefehlt habe.
(Ebd., S. 210) Die eigentliche transzendentale Logik besteht entgegen Kants
Meinung nun mit Blüher darin, daß die Erscheinungswelt - die Natur - sich mir
in zwei verschiedenen Arten darbietet: als angeschaute und als gedachte Welt -
d.h. ich konstruiere meine Welt mittels meiner Gedanken über diese Welt, wobei
diese Welt zugleich auch als empirische Gegebenheit vor meinen Augen existent
ist. Subjekt und Objekt bedingen sich in verschränkter
Subjekt-Objekt-Korrelation.
Blüher bezieht sich zu diesem Zweck im vorliegenden Buch auf die alten
Disziplinen der Philosophie und verknüpft sie miteinander, nachdem sie lange
nebeneinander her liefen: reine Logik, transzendentale Logik, Ästhetik, Ethik
und Religionsphilosophie. Sein Werk ist deshalb zugleich ein umfassendes und
klar geschriebenes Gesamtopus zur Philosophie überhaupt. Es vertritt - wie
angedeutet - eine umgekehrte Kopernikanische Wende: Diesmal nicht wie bei Kant
vom Objekt zum Subjekt, wonach die Erscheinungswelt sich im Subjekt selbst
konstituiere, sondern umgekehrt vom Subjekt zum Objekt hin.
Kurz: Die moderne Philosophie und ihr überschätztes Subjekt müsse nach
Blüher einen wesentlichen Bestand ihrer Kapazität an das Objekt - die Natur -
zurückerstatten. Das Buch liest sich als tiefgründiges Manifest gegen den
neuzeitlichen Subjektivismus. Erkenntnis macht der Mensch sich nach Blüher
nicht notwendig selber, sondern Erkenntnis ist ein Vorgang der Natur selbst - er
ist der Natur längst immanent, während der Mensch glaubt, er agiere subjektiv,
autonom und jenseits der Natur. Sogar das Schöne ist nur Ausdruck der Kraft der
Natur und liegt nicht allein in der Brille des Menschen begründet. Weiter:
Selbst die Ethik ist nicht ausschließlich aus Vernunft und Sozialität
abzuleiten, sondern aus dem Metaphysischen. Die Religion ist nicht tröstliche
Erfindung des Menschen, also kein menschliches Konzept zur Kompensation
individuellen Schmerzes, sondern sie ist "reines Ereignis der Natur".
Mit diesen Zusammenhängen befaßt sich Blüher den größten Teil der zweiten
Hälfte des Werkes. Er verbündet sich mit der christlichen Theologie, ohne
selbst zum Apologeten einer Theologie zu werden. Damit gelingt ihm freilich eine
religiös recht unvoreingenommene Proklamation des Primates der Natur, den er
gleich zu Beginn auf ein Motto zu bringen vermag. Dieses Motto ist dem Buch
vorweggestellt:
"DIE GRÖNLÄNDER WOHNEN AM NORDPOL DER ERDACHSE, OHNE ES ZU WISSEN. DAS
MENSCHENGESCHLECHT WOHNT AM SUBJEKTIVEN POL DER NATURACHSE, OHNE ES ZU WISSEN.
NIMMT EIN POLARFORSCHER EINEN ESKIMO MIT UND KLÄRT IHN AUF, WAS SEINE REISE ZU
BEDEUTEN HABE, SO WEISS DIESER AUF EINMAL, DASS DIE ERDE EINE ACHSE HAT UND SICH
DREHT. ER KEHRT ALS PFIFFIKUS ZU SEINEM STAMME HEIM. ALSO KLÄRT DIE PHILOSOPHIE
EINZELNE AUS DEM MENSCHENSTAMME AUF ÜBER DIE TRANSZENDENTALE LAGE DES
MENSCHLICHEN GESCHLECHTES UND DIE ACHSE DER NATUR. WER VON DIESEM GEISTE
ANGEWEHT WIRD, SETZT HÖHERES MENSCHTUM." (Ebd., S. 5)
Blühers Formel für die angemessene Wiederherstellung der Natur verdichtet sich
also zu einer einfachen gegabelten Formel: Die "Entdeckung der Natur"
(124), welche sich aufteilt in "Tiefendimension" (124) und "Achse
der Natur" (124). Er gibt der Natur ihre mystische Bedeutung zurück, denn
"durch sie allein kommt ein erträgliches Verhältnis des Menschen zur
Natur zustande. Wer aber der Meinung ist, daß die Entdeckung der einzelnen
Naturgesetze, die Dichtung, der Tempelbau, die Malerei, die Ethik und gar die
Religion Werke des "Menschengeistes" seien, der lästert Gott."
(124) -
Fazit
Dieses Buch ist mehr wenn je einer neuen Lektüre wert, denn es repräsentiert
ein philosophisches Universalwissen, welches, dargebracht in dieser
selbständigen, standhaften und konsequenten Weise, in Werken der Gegenwart kaum
noch zu finden ist. Es ermöglicht zudem die heute überfällige und
konstruktive Diskussion über Blüher.
Vorgeschlagen von Daniel Bigalke
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veröffentlicht am 30. Dezember 2007 2007-12-30 12:00:24