Es gibt wohl kein Buch in der Welt, welches bei seinen Lesern und Kennern
derartig hohes Ansehen genießt, wie die Bhagavad Gita - das Lied von der
Gottheit, die Lehre von der menschlichen Vollkommenheit im göttlichen Dasein.
Selbst für viele Christen, die noch den wahren Kern des Christentums leben und
begriffen haben, ist dieses Buch oftmals als unübertrefflich anerkannt. Auch
Wilhelm von Humboldt war stark von der Lektüre der Gita beeinflußt und
publizierte dazu seine berühmten Vorlesungen an der Berliner Akademie der
Wissenschaften: "Ueber die unter dem Namen Bhagavad-Gita bekannte Episode
des Maha-Bharata" (1826). Für ihn war es das "tiefste und erhabenste,
was die Welt aufzuweisen hatte." Und so sagte er einst, daß er Gott danke,
ihn so lange leben gelassen zu haben, um dieses Werk kennenzulernen.
Die Bhagavad Gita (Der Gesang [gita] des Erhabenen [bhagavad]), das bedeutendste
religionsphilosophische Gedicht des Hinduismus, ist Teil des umfangreichen
Sanskritepos Mahabharata, welches zwischen dem 4. Jh. v. Chr. und dem 4. Jh. n.
Chr. seine Form erhielt. Gott Vishnu steht in menschlicher Gestalt als
Wagenlenker Krishna dem Helden Arjuna vor der furchtbarsten Schlacht der
indischen Mythologie zur Seite. Arjuna zweifelt in einem Pflichtenkonflikt:
Seiner Aufgabe als adeliger Krieger (Kshatriya) gemäß soll er einen
"gerechten Krieg" führen, um Recht und Ordnung in der Gesellschaft
wiederherzustellen; auf der Gegenseite sind aber zahlreiche Verwandte und Lehrer
angetreten, die er zu schützen hat. Krishna zeigt ihm, daß der Rückzug aus
der Welt keine reife spirituelle Lösung ist, und belehrt ihn über die
Ordnungen der Welt, des Geistes und das menschliche Leben. Man erkennt dabei als
Leser im gesamten Gesang eine Synthese so unterschiedlicher Ideale wie des
kultischen Opfers, der monastischen Entsagung oder der selbstlosen Tat. (127)
Angesichts derartig hochwertiger Ansprüche an das Selbst erhellt sich auch das
Grundanliegen der Gita: Das Handeln ohne ich-hafte Absichten und die vollkommene
Hingabe an Gott führen auf der Basis von Erkenntnis zur Befreiung aus dem
Leiden.
Mit dem vorliegenden und dezidiert bibliophil ausgestatteten Buch wird auf
vielfältige Weise sichtbar gemacht, worauf es bei einem spirituell
verantworteten Leben ankommt, das sich trotzdem nicht aus den Konflikten der
Welt verabschiedet. Der Mensch im Widerspruch zu sich selbst, zur Gesellschaft,
zu der Weltordnung überhaupt - das ist die Situation, in der die Gita den Blick
auf metaphysische Zusammenhänge richtet und dabei immer wieder zurückkommt auf
die Frage nach dem rechten Handeln im alltäglichen Leben - eine methodische
Synthese aus Idealität und Empirie also. Mit fortschreitender Lektüre stellt
sich heraus, daß gerade in dieser integralen Bewältigung einer existentiellen
Erfahrung und in der Verbindung von Tradition und Modernität der Hauptgrund
für den anhaltenden Erfolg der Bhagavad Gita liegt. In ihr zeigt sich bereits
der Einfluß des Buddhismus: "Man muß sich selbst durch das Selbst
emporheben. Wer sich selbst durch das Selbst überwunden hat, ist zu seinem
eigenen Freund geworden."
Bei weiterer ernsthafter Lektüre, je mehr man in den Geist dieser Lehre
eindringt, um so mehr nähert man sich der erstrebten Erkenntnis des göttlichen
Grundes des Daseins zu einer Tiefe, die der oberflächlichen Philosophie oder
Naturforschung gleichsam fremd bleiben muß. Und so erscheint mit der Bhagavad
Gita die Welt als etwas viel Erhabeneres, das zu erkennen ausschließlich
Ergebnis verantwortungsbewußten Denkens und fortwährender Selbstreflexion ist.
Als weiterer Grundtenor dieser Lehre läßt sich damit festhalten: Der Mensch
ist durch seine Erkenntnis selbstbestimmt und kann durch eigenverantwortetes
Verhalten unmittelbar seine Bestimmung verwirklichen, die über das durch seine
soziale Stellung festgelegte Muster hinausgeht. - Der Heilsweg steht offen für
alle. (151)
Ein umfassender Stellenkommentar und eine sehr ausführliche
Rezeptionsgeschichte mit umfassender Literaturliste zu allen zentralen Aspekten
der Lehre der Bhagavad Gita runden das vorliegende Meisterwerk ab. Jeder
einzelne Sachverhalt des Originaltextes wird damit infolge jederzeit zu
absolvierender vertiefender Lektüre verständlicher gemacht. Interessant dabei
ist beispielsweise, daß auch Konzepte und Bilder auftauchen, die aus den
Upanishaden bekannt sind. (149) Ergänzend kann der geneigte Leser u. a. in der
Rezeptionsgeschichte im hinteren Teil des Buches nachprüfen, aus welchen
Gründen für die Theosophen die tiefste Lehre der Gita das selbstlose Handeln
als Opfer für das Weltganze wurde. (222) Dies Handeln könne man aber nur
vollbringen, wenn man die Einheit des Vielen im Ganzen erkenne - so die Lehre
der Theosophen, welche sich besonders auf Kapitel 11 der Gita stützt, um jene
Einheit von Konkretion und Abstraktion zu untermauern.
Es handelt sich in diesem Buch also vorrangig darum, einen umfassenden Begriff
vom metaphysischen Wesen des Menschen und der Natur zu erlangen, der nicht
vermittels der äußerlichen und außengeleiteten Beobachtung erreicht werden
kann. Die vielfältige Grundstruktur des Inhaltes der Bhagavad Gita ist dabei
stets unterschiedlich erklärt worden: als Produkt des religiös-philosophischen
Synkretismus (Richard Garbe), als Übergangsphilosophie (so der
Upanishaden-Übersetzer Paul Deussen) oder aber als nicht in Gänze rational
auflösbares mythopoetisches Phänomen (Wilhelm von Humboldt).
Fazit
Der Leser findet am Ende, daß weder der Besitz äußerlicher Dinge, noch die
Belustigung seiner Sinne, sondern die Erkenntnis des göttlichen Daseins und das
dadurch bedingte Bewußtwerden seiner Unsterblichkeit der wahre Zweck seines
Daseins sind. Öffnet sich sein inneres Auge diesem Geist, so findet man, daß
unser irdisches Wesen zu allen anderen Wesen auf Erden in Beziehung steht.
Vorgeschlagen von Daniel Bigalke
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veröffentlicht am 13. Dezember 2007 2007-12-13 10:26:23