Wohl niemand anders hat für die jüngste Gegenwart die unbedingte Notwendigkeit
vollends offener Demokratie so sehr gefordert, wie der Sozialphilosoph Johannes
Heinrichs. Er hat im Rahmen seines Paradigmas der vier Ebenen des sozialen
Organismus beispielsweise durchdachte Lösungen dafür geboten, wie
Grundwertefragen unabhängig von den Grenzen der Parteimentalität über die
vier menschlichen Reflexionsstufen sachlicher gelöst werden können. Seine
Theorie ist Ausdruck einer stets erzielten Konvergenz individuell-freien
Handelns und staatlich-amtlichen Handels. Ein derartig einzurichtendes vitales
Rechtsleben ist bei ihm konstitutiv für Gemeinschaften, in denen Religion und
Recht als Errungenschaft der Moderne getrennte Sphären sind. Und richten wir
einen radikal-kritischen Blick auf die Realität, so erkennen wir im Gegenzug
die Form einer "Säkular-Theokratie", die quasi-theologische
Legitimationswahrheiten selbst im Bereich des Politischen kennt. Sie geht den
Weg zur Eingrenzung politischer Selbstreflexion mittels der Dominanz von
weltanschaulichen Bekenntnissen mit der Folge eines ideologischen
Extremismusbegriffs bis hinein in die Institutionen - Preisgabe des Denkens
überhaupt.
Mit dem vorliegenden Buch liefert der Philosoph nunmehr ein weiteres Konvolut
des von ihm wirklich ernst genommenen freien Denkens ab, das es in sich hat. Der
Mensch hat vor gut 200 Jahren seine Pflanzen- und Tierwelt wissenschaftlich zu
ordnen begonnen. Bezüglich der Arten seines eigenen menschlichen Handelns aber
hat es die philosophische Handlungstheorie noch keineswegs zu einer
ernstzunehmenden Systematik gebracht, wie es die Chemie mit ihrem Periodensystem
tat. Heinrichs geht an diese Handlungssystematik heran, indem er Handlung als
Prozess der praktischen Reflexion, als Selbstbezug-im-Fremdbezug, sowie als
gewollte Veränderung von Weltteilen erfaßt. Nach den Arten des zu
Verändernden gewinnt er die obersten vier Handlungsgattungen. Das
"fraktale" Verfahren führt in einer phänomenologischen
Rekonstruktion unseres alltäglichen Handelns zu 256 Handlungsklassen, die
Heinrichs aus der Unterscheidung von objektiven, subjektiven, sozialen und
Ausdrucks-Handlungen destilliert.
Was der Leser hier also vor die Augen bekommt, mag anfänglich schwer zu lesen
sein und weist wohl auf die Notwendigkeit hin, vielleicht eine kürzere Fassung
in verständlicherer Sprache zu veröffentlichen. Dennoch: Auch wenn diese
Schrift anfangs noch etwas fachphilosophisch anmutet, so gelingt die
überraschende Rekonstruktion unserer Handlungswelt fortschreitend in geradezu
amüsanter Weise. Es handelt sich um ein ebenso anspruchsvolles wie bescheidenes
Unterfangen, bei dem der Autor so manches sakrosankte Postulat des
gegenwärtigen Wissenschaftsbetriebes inklusive seines Vertreters in Frage
stellt. Der angefügte offene Brief an Jürgen Habermas bietet ein
beeindruckendes Beispiel dafür. Der Leser wird Zeuge einer
philosophiegeschichtlichen Wende. Gleichzeitig meint man, die Größen des
deutschen Denkens, Hegel und Fichte, zu vernehmen, die gleichsam den nicht
drohenden sondern mahnenden Zeigefinger erheben: "Die wahre Gestalt, in
welcher die Wahrheit existiert, kann allein das wissenschaftliche System
derselben sein. Indem die wahre Gestalt der Wahrheit in diese
Wissenschaftlichkeit gesetzt wird, so weiß ich, dass dies im Widerspruch mit
einer Vorstellung und deren Folgen zu stehen scheint, welche eine so große
Anmaßung als Ausbreitung in der Überzeugung des Zeitalters hat."
Heinrichs entfacht mit diesem Buch eine wegweisende Debatte mit Jürgen
Habermas. Und fürwahr - Habermas’ inzwischen völlig unkritisch reproduzierte
und nicht mehr der gegenwärtigen sozialen und politischen Situation gemäße
SPD-Philosophie hat tatsächlich dahingehend versagt, daß sie die Leistung der
großen europäischen Philosophie und insbesondere diejenige des Deutschen
Idealismus als neuerliche Form einer "konkreten Selbstbehauptung in der
Situation" (Bernard Willms) nicht konstruktiv weiterentwickelte, sondern
sich das modische angelsächsische Mäntelchen umhängte. Bei Heinrichs klingt
das dann so: "Was wir im öffentlichen Bereich brauchen ist keine
Diskursethik, (...), sondern vielmehr: institutionelle Vorkehrungen, die der
gesellschaftlichen Kommunikation, der Demokratie als einer kommunikativen
Gesellschaft, Chancen bieten." (473)
Nicht gerade zurückhaltend wirft der Autor also Habermas vor, es weder zu einer
systematischen Handlungstheorie, die sich von so genannter Sprachpragmatik
unterscheiden läßt, noch es zu einer strukturierten Sprachtheorie gebracht zu
haben. Habermas habe somit die "Logik des Sozialen" nicht erfasst und
eine Systemtheorie der Gesellschaft verpasst. Stattdessen verschanze er sich
lieber hinter einer kuscheligen kommunikativen Lebenswelt, die er leichtfertig
den "bösen Systemen" entgegengesetzt und somit jeden systematischen
Anspruch auf strukturierte Erfassung von individuellen oder sozialen Prozessen
unmöglich machen würden. Gewiss würde er dann vermittels des strukturelleren
philosophischen Denkens auch erkennen, daß die Feinde der
"diskursiven" Gesellschaft lediglich die Feinde in seinem eigenen Kopf
sind.
Eines indes steht am Ende fest: Jetzt ist nicht nur Habermas neu
herausgefordert, sich mit dieser neuen Systemtheorie auseinanderzusetzen. Auch
die Philosophie als solche hätte nunmehr neue Gesetzmäßigkeiten und wäre auf
dem Weg nach der Frage: "Was ist der Mensch?" und "Nach welchen
Gesetzen handelt er?" ein gewaltiges Stück vorangekommen. Die alte
bundesrepublikanische Herrschaft des "herrschaftsfreien Diskurses"
zumindest liegt tatsächlich am Boden und der universitäre Diskurs hat versagt,
denn der wahre Sinngehalt des philosophischen Denkens in der Tradition des
Deutschen Idealismus war keine vorübergehende Angelegenheit des 19.
Jahrhunderts, sondern setzt sich u. a. mit diesem Buch in die Gegenwart hinein
fort. Neue denkerische Lösungsvorschläge finden wir nur über die Anerkennung
dieser Tradition, nicht über Verleumdung derselben, um etwas
"richtigeres" erst herzustellen. Der Philosoph Willms schrieb zum
Deutschen Idealismus: "Jenem Denken ging es darum, eine bestimmte, für
vernünftig gehaltene Form der Gesellschaftlichkeit zu etwas zu machen, das
nicht erst bewußt hergestellt werden müsse, sondern das der einzelne schon von
sich her mitbringt." Keine diskursverherrlichende und erst vom Einzelnen
anzunehmende "Gelehrsamkeit" also, sondern die Erkenntnis steht im
Mittelpunkt, daß jeder Mensch zur Selbstreflexion und zu umfassendem - auch
nationalem - Selbstbewußtsein fähig ist.
Fazit
Das vorliegende Buch ist dafür ein zeitgemäßer philosophischer Wegweiser.
Vorgeschlagen von Daniel Bigalke
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veröffentlicht am 10. Dezember 2007 2007-12-10 12:18:54