Für jeden denkenden Menschen gibt es eine spezifische Form des Denkens, die
sich aus demselben Fundus wie seine Weltanschauung und seine Denkergebnisse
speist. Und so schrieb der Geschichtsphilosoph Oswald Spengler (1880-1936) im
Vorwort zu seinem Buch "Der Untergang des Abendlandes" (Zuerst 1917):
"Ein Denker ist ein Mensch, dem es bestimmt war, durch das eigene Schauen
und Verstehen die Zeit symbolisch darzustellen. Er hat keine Wahl. Er denkt, wie
er denken muß, und wahr ist zuletzt für ihn, was als Bild seiner Welt mit ihm
geboren wurde." Allein, mit der vorliegenden Buchausgabe von Spenglers
Hauptwerk im Philosophie-Verlag Marix, der überdies viele weitere interessante
Überraschungen in sich birgt, haben wir ein Buch vor uns liegen, welches dieser
Grundmaxime folgt.
Es offenbart ein Denken, von dem man in jedem Satz erkennen kann, daß sein
Autor nicht anders konnte, als so zu schreiben, wie er schrieb. Der Stil des
Denkers und seine Lehre sind darin unüberwindlich verwandt und einmalig
charakteristisch entfaltet, wie es die Schulphilosophie nicht könnte. Spengler
gesteht sogar an anderer Stelle: "Eine wissenschaftliche Philosophie wird
auf solcher meiner Grundlage nie entstehen." - Er ging eben seinen eigenen
Weg.
Die vorliegende Marix-Ausgabe zum "Untergang" ist die derzeit
aktuellste. Sie setzt sich damit positiv vor allem aufgrund eines Kriteriums von
den älteren Ausgaben bei C.H. Beck oder dtv ab: Sie beinhaltet ein wichtiges
und aktuelles Nachwort des Philosophen und Kulturwissenschaftlers Thomas
Zwenger, welches aktueller denn je und ausgestattet mit einer aktuellen
Bibliographie exklusiv zum Thema "Untergang des Abendlandes" ein
wichtiges Grundgerüst für diejenigen Politologen und Philosophen bietet, die
sich dem Werke Spenglers heute zu öffnen begonnen haben. Entsprechend
resümiert Zwenger völlig zu Recht, daß dieses Werk "so attraktiv wie vor
80 Jahren" sei, weil darin ein "charismatischer Deuter der letzten
Gründe unsers Daseins" auftritt. Zwengers Nachwort liest sich als
wunderbarer einführender Essay, den zuerst zu studieren direkt vor dem recht
komplexen Gesamtwerk zu empfehlen ist.
Darin nämlich fragt Spengler bekanntlich, inwiefern nicht das Wesen der
Geschichte von einmaliger, unwiederholbarer und unverwechselbarer Eigenart ist.
Spenglers spezifischer Ansatz schimmert überall durch, nämlich der der
Versuch, die Seinslehre (Ontologie) in eine Werdenslehre zu verwandeln, um die
alten Weltbilder zu dynamisieren. Daher seine Skepsis gegen die statische
Schulwissenschaft, die vermeintlich dauerhaft verharrende Kategorien und
Verhältnisse zugrunde legt. Es kann für Spengler hingegen im von ihm gesehenen
Chaos der Verwandlungen keine bleibenden Werte geben. Und zugespitzt läßt sich
sagen: Alle Schöpfungen in Kultur, Staat, Gesellschaft, Sitten und Anschauungen
sind für Spengler Produkte der Natur. Sie unterliegen denselben Bedingungen des
Daseins wie die übrigen, nämlich dem strengen vom vorsokratischen Philosophen
Heraklit herrührenden Gesetz, daß nichts bleibt und alles sich verändert,
daß alles erscheint und gnadenlos vergeht. - "All things must pass"
(George Harrison).
Natürlich ist diesbezüglich bei Spengler die Absicht einer imperialen
Machtpolitik auf der Grundlage der Ideen Nietzsches, wonach zwischen Elite und
Masse getrennt werden müsse, zu erwähnen. Aber den Ideen Spenglers wohnt damit
lediglich die Konzeption des politisch-ökonomischen Realismus inne, der
bestimmend für die Zukunft Deutschlands und vieler anderer Staaten der
damaligen Zeit war. Er bildet den wichtigsten Kristallisationspunkt in der im
hinteren Teil des Buches befindlichen Theorie zum Staat und zum
"Cäsarismus": Nicht der Stammbaum, sondern die "technische
Intelligenz" sollte das grundlegende Kriterium der Auswahl neuer Eliten
sein. Ein für damalige Zeiten fortschrittlicher Gedanke.
In der Theorie Spenglers zur "neuen Elite" sollten die alten
Repräsentanten des Geistes eben durch vitale Führer aus Politik und Industrie
ersetzt werden. Ein Wechsel der Eliten, wie es auch das allgemeine Programm der
Republikanisierung des Staates in der Weimarer Zeit war, bietet sich hier als
wichtiger Punkt seiner Philosophie dar - ein wichtiger Aspekt, den unter die
Lupe zu nehmen noch aussteht, denn Spenglers Verachtung der Weimarer Republik
schließt seine Offenheit gegenüber jungen und vitalen Kräften zur Zersetzung
althergebrachter aristokratischer Strukturen vor allem im Auswärtigen Amt
seiner Zeit nicht aus. Sie beinhaltet damit gerade eine Tendenz hin zur
Republikanisierung.
Das Hervortreten von Eliten hänge nämlich immer wieder neu auch von jeder
neuen Phase der Geschichte ab. Oswald Spengler entwirft eben in diesem
kulturphilosophischen Hauptwerk das Panorama einer Geschichtsphilosophie, die
die Erfahrungen der Zeit vor und während des Ersten Weltkrieges reflektiert und
der allgemeinen Krise des abendländischen Bewußtseins Ausdruck verleiht. Man
könnte dieses Krisenbewußtsein zur Jahrhundertwende mit einer Aussage E.M.
Ciorans zusammenfassen: "Die Menschheit lebt dahin, verliebt in das sie
verleugnende Geschehen." (Cioran, Lehre vom Zerfall, Klett-Cotta, 1978, S.
60) - Und Spengler eben fordert den tatkräftigen Genius, der nicht in das
Geschehen verliebt ist, sondern es meistert.
Fazit
Fazit: Man legt dieses Buch mit einer wesentlichen Erkenntnis aus der Hand,
welche auch der Herausgeber Zwenger bestätigen würde: Für Politologen,
Historiker und Soziologen ist das vorliegende Werk unverändert von großem
Wert, da sich gerade an ihm wie an kaum einem anderen die Suche der
Intellektuellen nach einer deutschen Identität in Zeiten der Modernitätskrise
nicht nur der Zwanziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts sondern auch heute
nachvollziehen läßt. Der Marix-Verlag liefert hier eine sehr ansehnliche
Ausgabe, die zudem rein optisch dem phänomenalen Inhalt des Buches gerecht
wird.
Vorgeschlagen von Daniel Bigalke
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veröffentlicht am 04. Dezember 2007 2007-12-04 20:42:43