Der geistige oder entsprechend danach lebende Archaiker der Moderne wird sich
der Ewigkeit des Seins inne. Der Tod ist für ihn nicht das Letzte. Es gibt
keine Enge, keine Angst, kein Schicksal. Die vorantreibende Aktion, die
Anerkenntnis eines Sinnes in der Mannigfaltigkeit des Geschehens und der
Lebensbetrieb allein sorgen gerade für die Abwesenheit des Schrecklichen. Und
so wirken Eros, Geschlecht, Essen, Trinken, Schlaf, Traum, Familie,
Freundschaft, Haus, Garten, Krankheit und Tod als nicht auszumerzende Reste von
Archaik bis in die Gegenwart hinein.
Der Soziologe Hans Freyer, Gerhard Nebel oder Oswald Spengler - sie alle
erkannten aber in ihren Schriften die Vernichtung der archaischen Lebenshaltung
durch Metropolitismus und Zivilisation, durch entstandene Verhaltensweisen,
innerhalb derer die nervöse, lebensfristende Masse mittels archaischer
Ersatzmittel wie Film und Sportwettkampf auf der Suche nach Entspannung ist,
weil die eigentlich verankerten Traditionen, die moralischen Kriterien und das
religiöse Erlebnis des Archaischen, der Ritus und die damit entstehende
Sinngebung im Leben, verloren gingen.
In diesem Sinne möchte die Udo-Keller-Stiftung "Forum Humanum" durch
ihre Arbeit kein Bekenntnis zu einer bestimmten Weltreligion ablegen, sondern
auf der Grundlage interdisziplinärer und interreligiöser Projekte zur
Erkennbarkeit des Mysteriums menschlichen Seins beitragen und fördert den im
Verlag der Weltreligionen gedruckten vorliegenden Band Mircea Eliades. Dieser
bietet treffliche Erklärungen für soeben beschriebene Phänomene dar. Eliade
stellt in seinem Buch Grundfragen menschlicher Existenz: Wie erträgt der Mensch
das Leid und die Katastrophen, denen er ausgeliefert ist? Wie deutet er das
historische Geschehen und gibt damit seinem Leben einen Sinn?
Bei dem Versuch des Menschen, seine Stellung im Universum zu deuten, lassen
sich, so Eliade, zwei entgegengesetzte Grundhaltungen unterscheiden: Der
historische (moderne) Mensch sieht sich als Schöpfer der Geschichte, der Mensch
der archaischen Kulturen dagegen wehrt Geschichte ab, indem er alles Historische
in ein System von Mythen und Archetypen einordnet. Archetypen gelten bei Eliade
als Synonym für "beispielhaftes Vorbild" - meistens auf Ebene der
Götter, an denen der archaische Mensch in den Niederungen seines Daseins das
eigene Handeln orientierte. Wohlgemerkt meint Eliade damit keine terminologische
Äquivalenz zum "Archetypus" der Theorie des Psychologen C.G. Jungs.
Eliade beschreibt hier überlieferungsgebundene Gesellschaften und ihre
Auflehnung gegen die konkrete historische Zeit, um sie damit zugleich von der
Mehrzahl gegenwärtiger moderner Lebenshaltungen abzusetzen.
Immer wieder tritt beim archaischen Typus Mensch die Sehnsucht nach periodischer
Rückkehr zu den mystischen Zeiten der Uranfänge hervor. Eliade gibt dafür
eine Fülle von Beispielen aus den verschiedensten Kulturen der Welt und
vermittelt überraschende Einsichten in die Ursprünge unseres eigenen Denkens
und Verhaltens. Es gelingt ihm damit vortrefflich, die vorherrschenden
Kraftlinien im Spekulationsbereich der archaischen Gesellschaften freizulegen.
Als Leser kommt man zu der Erkenntnis, daß die erkenntnistheoretischen
Erfahrungen der so genannten "primitiven" Menschen unheimlich
unterschätzt werden. Damit liefert das vorliegende Buch ein Beispiel dafür ab,
wie die archaische Ontologie ein spannender Fall selbst für Ethnologen und
Orientalisten jeglicher Couleur werden kann und wie gleichsam die Rolle der
vorsokratischen Metaphysik in der Postmoderne neue Bedeutung erlangt.
Es lassen sich bekanntlich wirklich immer wieder Reaktionen auf den historischen
Linearismus feststellen, welche im Sinne archaischer Urauffassungen eine
Rehabilitierung der Begriffe "Zyklus", "Archetypus" oder
"Fluktuation" betreiben. Es ließe sich hier ein Bogen über Nietzsche
("ewige Wiederkehr"), Spengler ("Untergang") oder Toynbee
("challenge and response") spannen. Und betont Eliade, daß in der
Archaik jede rituelle Handlung ein göttliches Vorbild habe und dem einzigen
Ziel der Aufhebung der profanen Zeit als sinnentleerter Zeit zwecks Versetzung
des Seins in eine mythische Zeit diene, so wird schnell klar, daß auch heute
dergleichen Phänomene über Horoskope, über ein mediales zweites Leben oder
über den Drang nach Rivalität in Kampf und Spiel zeitnah sind. Sie betonen
unverändert den rituellen Charakter selbst dieser modernen Lebensweisen.
Der archaische Mensch kennt für Eliade keine Handlung, die nicht von einem
anderen gesetzt oder vorgelebt worden wäre, von einem anderen, der kein Mensch
gewesen ist. Was der archaische Mensch tut, ist für ihn schon von Höherem
getan worden. Damit leitet Eliade methodisch sofort das Prinzip der
ursprünglichen Ontologie her. Es ist das Prinzip der Wiederholung von
Handlungen, die von etwas Höherem abgeleitet werden.
Diese zentralen Aspekte einer archaischen Ontologie von Sein und Wirklichkeit
bezeugt die Sehnsucht der "Primitiven" nach dem höheren Sein als
heiliger Zone par excellence. So beispielsweise in der iranischen Kosmologie
zervanitischer Überlieferung, in welcher jedes irdische Phänomen einem
himmlischen, transzendenten Wort, einer Idee im platonischen Sinn entspricht.
Ebenso besitzt Platons Idealstaat, die "Politeia", ein himmlisches
Urbild. Die Griechen suchten im Mythos der ewigen Wiederkehr ihren
metaphysischen Durst nach dem Ontischen zu stillen - denn vom Standpunkt der
Unendlichkeit aus wird das Werden der Dinge folgerichtig aufgehoben.
Mehrmals geht Eliade angesichts dieser spannend zu lesenden Aspekte auf den
Philosophen Hegel ein. Hegel behauptete auch, die Natur der Dinge wiederhole
sich beständig. Es gebe nichts Neues unter der Sonne. Und so ist es nur
folgerichtig, wenn Eliade Ähnliches beim Menschen der archaischen
Gesellschaften bestätigt. Denn für ihn - den originären Archaiker oder den in
den Nischen der Gegenwart lebenden Archaiker - wiederholen sich die Dinge auch
unendlich, und es gibt nichts Neues. Aber gerade diese Wiederholung hat ja einen
Sinn. Sie allein verleiht den Geschehnissen Wirklichkeit, Heiligkeit.
Man könnte im Sinne Eliades auch folgende Rechnung archaischer Ontologie
eröffnen: Die Profanität als potentielles Nichts und als Unwirklichkeit speist
den Glauben an die absolute Realität des Höheren. Selbst das Leiden hat darin
seinen Sinn, denn dem Schmerz wird ein Wert verliehen. Er wird aus einem
negativen Zustand in eine Erfahrung positiven geistigen Gehalts umgewertet und
machte den Menschen des Widerstands und der subjektiven Sinngebung fähig. Leid
war Ereignis. Krieg war Ereignis, Reinigung und Beginn von etwas Besserem.
Schmerz, Verlust, Niederlage und Elend hingegen finden ihre Rechtfertigung im
Transzendenten, in einer notwendigen göttlichen Ökonomie, die es bis zum
nächsten Sieg zu ertragen gilt, wie z.B. nach Eliade für die Juden jedes neue
geschichtliche Unglück eine Strafe war, die Jahwe über sie wegen der sündigen
Ausschweifungen verhängte, denen sich das auserwählte Volk hingab.
Das vorliegende Buch Eliades bietet ernüchternde Erkenntnisse, die trotzdem
fortdauernd beeindrucken und zu der Bilanz führen, daß keins der modernen
philosophischen Systeme je derartig in der Lage war, den Mensche vor den
empfundenen Schrecken der Geschichte zu bewahren, wie es den vorphilosophischen,
vorsokratischen, archaischen und inneren Überzeugungshaltung des
"primitiven" Menschen gelang.
Fazit
Eliade empfahl allen anfangenden Lesern seiner Bücher dieses hier vorliegende.
Diesen Status hat es auch für heutige Neueinsteiger in die Lektüre seiner
Schriften nicht verloren.
Vorgeschlagen von Daniel Bigalke
[Profil]
veröffentlicht am 02. Dezember 2007 2007-12-02 15:21:45