Daß der Leser hier ein außergewöhnliches Buch vor sich hat, stellt sich schon
auf dem ersten Blick heraus: das Thema, der Klappentext und die ersten Seiten,
welche sich durch einen eigenen ästhetisch-stilistischen Schreibstil
auszeichnen, verleiten erfolgreich zu tiefgehender Lektüre. Kurz gesagt:
Inhaltlich findet man in "Zombologie" "Teqste" - also Texte
- und Teqstfragmente zu einer Theorie der Gewalt, zu Drogen und Genußmitteln,
zur Lexikologie der Untoten, zu Helden, Heiligen und Medien - schlichtweg zu
sozialen Phänomenen.
QRT, alias Kurt Leiner und eigentlich Markus Wolfgang Konradin Leiner, von dem
seit 1999 aus seinem Nachlass vier Textbände im Berliner Merve Verlag
erschienen, bezeichnet den Komplex des Sozialen als ein "Walten",
dessen "Ursprung und Movens" die Gewalt als die gewalttätige
Eröffnung der Differenz ist, deren sprachliche und intellektuelle Organisation
man Verwaltung nennt. Das Soziale ist,Bewältigung' (Steuerung) des,Waltens'
(Schicksal). Der Merve-Philosoph Leiner bezieht sich ungenannt auf Heidegger,
wenn er weiter schreibt, daß jede soziale Positionierung sich auf ein
"Sein zum Tode hin" (73) definiert. Materie hingegen wird durch das
Leben zum Medium. Zwischen toten Materieobjekten vermitteln Medien. Medien sind
operationale Einheiten für Kommunikationsprozesse im weitesten Sinn. Zwischen
zwei kommunizierenden Einheiten liegt immer ein weiteres Medium in der
Differenz, es ist die Spur, der Abstand der Kommunikation.
Was der Leser hier vorfindet ist ein tiefgründiger Medley aus
kultursoziologisch-philosophischen Überlegungen, die auf Philosophen wie
Heidegger (Leben als "Sein zum Tode"), Fichte ("Der eigene Tod
ist dagegen ein Phänomen für andere.") oder Spengler zurückgehen.
Teilweise hätten diese philosophischen Versatzstücke inhaltlich schärfer
konturiert hätte werden können. Interessant sind Leiners kultursoziologische
Überlegungen zum Helden in der Zeit der Christianisierung: "Ursprünglich
sind Helden und Heilige Produkte einer Ästhetik. Durch die Christianisierung,
d.h. die Umwertung des Helden in einen Heiligen, verwandelt sich der heilige in
ein Produkt der Ethik." (61)
Soweit, so gut. Doch zeichnet sich ab, daß es dem Autor um mehr geht. Er zielt
gerade auf ein Durchbrechen von abendländisch-christlichen Dualismen und
Moral-Codes wie "gut - böse" oder "gut - schlecht", um sie
zugunsten einer Unschärferelation aufzubrechen, die er
"Zombinarismus" (11) nennt. Der Zombi ist Untoter, eine "negatio
duplex", und erscheint dem Lebenden als Toter. Im Vergleich zum echten
Toten ist er Lebendig. Zugleich erhebt sich damit die Anklage gegen die
Ausgrenzung des Todes und der Toten in einer Zeit, in der alles auf das Prinzip
der Legalität, des lediglichen Erlaubtseins zusammenschrumpft, einer Welt, in
der die Mode, die Medien, das Vergnügen und der permanent sich aufdrängende
Konsum - so Leiner - die Menschen zu Zombis macht. Leiner schreibt: "Alle
Diskurse, d.h. Bedingungen der Möglichkeit eines speizifischen Sprechens in
einer Kultur, sind an ihre Axiome gebunden und dazu verdammt, sie permanent zu
thematisieren und zu repetieren. In dieser bürgerlichen Gesellschaft eben
Humanismus, Geschichtlichkeit, Subjektivität, politische Ökonomie und
Rationalität. Zombologie ist ein Versuch, mit einer anderen Axiomatik zu
operieren, die vielleicht einem wilden Sprechen näher steht. Damit eröffnet
sich sogleich die Notwendigkeit ethnologischer Blicke, die nicht von einer
eurozentrischen Position geworfen werden." (9)
Selbst Spenglers Unterscheidung von "Dasein" und "Wachsein"
erhält mit der vorliegenden Theorie der "Zombologie" eine neue
Bedeutung für die Gegenwart. Es ist dies der Unterschied zwischen Passivität
(Dasein) und Aktivität (Wachsein), Pflanze (Dasein) und Mensch (Wachsein) -
worin eben die vom System erzeugten Untoten sowohl ein neues soziologisches
Phänomen darstellen. Sie nehmen eine neue Mittlerposition ein und bedürfen als
Ereignisse des Sozialen einer neuen wissenschaftlichen Erörterung, welche die
herkömmliche Anthropologie nicht mehr zu bieten befähigt ist. Was wir vom
Ereignis im Realen wissen - hier wiederum ein Versatzstück des transzendentalen
Idealismus - ist für Leiner bloß das, als "was uns das Ereignis im
Imaginären erscheint" (31), und dieses wird wiederum von den Medien
gespeist.
Leiner plädiert deshalb im vorliegenden 292. Merve-Band für
"Zombologie", die die Anthropologie ersetzen soll, weil Zombologie die
- frei nach Dostojewski - vom sozialen und politischen System der Gegenwart
erzeugten Beleidigten und Erniedrigten besser und aus neuem Betrachtungswinkel
analysiert - nämlich aus ihrer eigenen oftmals gerade von Gewalt geprägten und
damit jenseits einer jeden staatlich verordneten Legalität befindlichen
Lebenswelt, die den proklamierten Pazifismus als Hohn versteht. "Durch den
totalen Ausschluss der Gewalt tritt die irreguläre Gewalt vor allem bei denen
auf, die als soziale Gruppe vom Aus- oder Einschluss betroffen sind". Der
Tot ist in diesem Zusammenhang keine biologische sondern eine soziale Grenze:
Der Sozialstaat wird zur Brutstätte des modernen Untoten, der durch den Staat
auf kümmerlichem Niveau gehalten wird. Zugleich aber repräsentiert der soziale
Zombie immer auch den Widerpart zum geldfixierten, instrumentalen Körper der
Arbeitergesellschaft. Verständlich wird hier die Einordnung des Zombis aus
neuer wissenschaftlicher Perspektive recht schnell: Gilt er den Ethnologen als
Mythologem, so ist er für die Soziologen ein Kulturem - Ausdruck einer Zeit,
die sich post-industrielle Welt nennt und deren postmoderne Diskurse, von
Foucault bis Virilio und Baudrillard, geprägt wurden. Weitere wichtige Namen
fallen: Bataille, Klossowski oder Serres - alles Meister der Thanatologie, unter
denen gegenwärtig nur noch der Name des Berliner Herausgebers der Schriften
Philipp Mainländers, Winfried Müller-Seyfarth, fehlen würde.
Bis zur Publikationsreife, so wird oft moniert, seien viele Texte von Leiner
nicht gediehen. Nach vollendeter Lektüre der vorliegenden Schrift weiß der
Leser ohne Zweifel, daß dies auch gar nicht nötig ist. Die Texte stehen als
Kunstwerk für sich, bestechen durch ihre Gedankenschärfe und ihr
Provokationspotential. Und das, was provoziert, war schon immer der Realität
näher, als es der Mensch als potentiell Verführbarer wahrhaben möchte. Der
Autor von "Zombologie" hat deshalb und gerade in Anbetracht
gegenwärtiger Pauperisierungstendenzen, Leiner würde sagen
"Zombologisierung", Interesse verdient. Sehr erhellend und geradezu
notwendig zur Einordnung der Schrift in die zeitgenössische Auseinandersetzung
sind die Ausführungen von Frank Wulf in seinem Nachwort. Er beschreibt die
konstitutive Grundvoraussetzung zur soziologischen Konfiguration des Zombis:
"Wenn die Geschichte tot war, die Zukunft tot, das Subjekt tot, das Wissen
tot, und es trotzdem irgendwie weder tot noch lebendig weiterging, dann bot es
sich an, diesem Dauerzustand einen Protagonisten zugeben: Der Zombie war wie
geschaffen dafür." (140)
Fazit
Das Buch liest sich als großartige Rehabilitierung eines ethnologischen Mythos,
der zum sozialen Kulturem der Gegenwart wird und als soziologisches Phänomen
Produkt der umfassenden "Verhartzung" der Gesellschaft ist. Dieses
Produkt bevölkert die großen urbanen Elektronikmärkte. Dort finden jene das
Rüstzeug zur Virtualisierung, die im realen Leben keine Rolle mehr spielen oder
dazu verdammt wurden, gerade diese Nicht-Rolle spielen zu müssen. Zugleich also
haben wir hier eine radikale kultur- und sozialkritische Anklage vorliegen. Es
fragt sich, wie lange der bundesdeutsche Sozialstaat die Zunahme an Untoten in
diesem Sinne noch versorgen und verwalten kann. Eine neue "zombinäre"
Identität zumindest hat er ihnen inzwischen schon verordnet.
Vorgeschlagen von Daniel Bigalke
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veröffentlicht am 09. November 2007 2007-11-09 11:16:03