Traktate über die Heilkunst haben eine lange Tradition. Sei es Paracelsus oder
Hahnemann, Hildegard von Bingen oder Hans Blüher - die Geschichte der Gedanken
über eine umfassende Heilung von Menschen ist umfassend. Und dennoch scheint
die heutige Schulmedizin eben umfassendere Konzepte, integrale Ansätze zur
Heilung und alternative Erwägungen über Gesundheit und Krankheit im Rahmen von
Profitdenken und des Ausbaus von Arztpraxen in unermeßliche
"Gesundheitszentren" mit einbegriffenen Apotheken-Zentren zum
sofortigen Kauf von Medikamenten als überflüssig an den Rand zu drängen.
Hans Blüher (1888-1955), Soziologe der Jugendbewegung in den 20er Jahren,
verfaßte als letzter ein nahezu zeitlos und unangreifbares philosophisches
Werk. Sein "Traktat über die Heilkunde", eine komplexe Metaphysik der
Neurose und der Krankheiten mit Bezügen zur Psychoanalyse und Homöopathie, war
ein Meilenstein. In ihm ist zu lesen: "Ist jemand krank, so zeigt sich das
immer zugleich im Psychischen wie im Physischen, aber es ‚zeigt’ sich nur
dort; krank ist immer Man selbst." Blüher drückt damit aus, daß der Akt
der Heilung immer ein durchaus individueller ist, daß jeder seine eigene
Krankheit wie sein eigenes Gesicht hat und deshalb individueller Behandlung und
Gespräche bedarf. Man könnte sogar im Sinne Hölderlins, Nietzsches oder
Rilkes zugespitzt sagen: Jeder hat seinen eigenen Tod bereits in sich und muß
ihn bis zum Ende tragen. Ich erwerbe mir diejenige Krankheit, auf die ich
wesensgemäß gestimmt bin. Es herrscht eine Passung vor. Die Schulmedizin mag
mit solcherlei Auffassung wenig anzufangen. Dennoch - sie ist im Kommen und wird
sich durchsetzen. Denn wer heute über die Medizin im 21. Jahrhundert nachdenkt,
verspürt Unbehagen: unverstandene, "produktiv" abgehandelte Patienten
und von Bürokratie sowie Kostenerwägungen zermürbte Ärzte prägen das Bild
der Gegenwart.
Bernd Hontschik, praktizierender Arzt, setzt dieser Entwicklung mit seinem
vorliegenden Buch einen wirksamen Stein in den Weg und berichtet über seine
tägliche Arbeit. Er plädiert dezidiert für ein Umdenken in der Medizin. In
seinem ersten Band der neuen Reihe medizinHuman geht es um die erwähnten
Irrwege der hochgerüsteten Medizin und die Notwendigkeit ärztlicher
Kreativität auch in Richtung auf die psychosoziale Lebensrealität des
Menschen. Er schreibt: "Die individuelle Lebenskonstruktion eines Menschen
in Krankheit und Gesundheit zu erkennen und damit im Sinne einer Heilkunst zu
arbeiten verspricht aber weder Profit noch Macht." Und dennoch ist sein
Buch der Beginn einer entsprechenden Umkehr. Das Unbehagen bei Arzt und
Patienten im Zuge von Tendenzen, die er als "Globalisierung -
Industrialisierung - Entsolidarisierung" kennzeichnet, gilt ihm als zu
überwindendes Produkt des entgrenzten Markt- und Konkurrenzdenkens in der
Medizin, die wenig Beachtung und Mittel für die Erforschung biopsychosozialer
Zusammenhänge übrig habe. Mit entsprechender Folge, die Hontschik in nicht von
der Hand zu weisende Fragen münden läßt: Warum heilen Wunden entgegen aller
Logik nicht zu? Warum wirken Medikamente manchmal und manchmal nicht? Seine
Antwort ist, daß der Arzt eben beispielsweise keinen Diabetes behandelt,
sondern einen Menschen, der durch Diabetes zum Patienten geworden ist. Er
behandelt eine individuelle Lebenswirklichkeit. Jedes Symptom habe eine
Bedeutung und die intime Arzt-Patient-Beziehung - Ausdruck eines weniger
profitorientierten Gesundheitswesens - sei der Schlüssel, diese zu realisieren.
Der Mensch ist eben weit mehr als eine "triviale Maschine", und die
Kunst des Heilens besteht darin, ihn auch so zu behandeln: als Einheit von
Körper und Seele.
Überzeugend und spannend zu lesen sind die Beispiele, mit denen der Autor seine
Auffassungen gleichsam empirisch belegt. So gibt es für ihn individuelle
Lebenswirklichkeiten, die manchmal im Rahmen eines Adoleszenzkonfliktes zwischen
Tochter und Eltern in Form eines Initialritus entladen werden, sprich:
Appendektomien - Blinddarmentfernungen - bei jungen Mädchen Montag früh auf
hysterisches Drängen der Eltern hin kommen statistisch sehr oft vor. Sie enden
nachweisbar in Placebo-Operationen, in denen der Arzt nichts wirklich
verbessert, sondern nur die Erfahrung der Operation die Familie im Sinne eines
Verbesserungsgefühls eine "Genesung" wahrnehmen läßt, obwohl die
Operation nicht notwendig gewesen wäre. Einmal mehr bestätigt sich hier, daß
Körper und Seele zusammengehören, daß der Dualismus der Schulmedizin einer
wirklich innovativen integralen Medizin weichen muß, die nicht leichtfertig als
"Esoterik" zu schelten ist. Eine Medizin für "Körper ohne
Seelen", die nur auf den Austausch defekter Teile aus ist, und eine
"Medizin für Seelen" ohne Körper, die nur in der Psychotherapie
ihren Ausweg findet, verknüpft der Autor damit zur Synthese. Diese weiß, daß
Liebe, Haß, Scham und Trauer eben im Körper auch eine organische Grundlage
haben, was die mechanistische Schulmedizin nicht erkennt, weil sie zur
Profitmaschine wird.
Noch weitere Beispiele bietet der Autor. Die individuelle Lebenskonstruktion
eines Ehepaars kann z.B. die Wundheilung hemmen oder beschleunigen. Heilung kann
zum sozialen Zerwürfnis führen, wenn die Fürsorge für eine Wunde eine Ehe
zusammenhielt. Die Konstruktion individueller Lebenswirklichkeit gehört für
Hontschik deshalb zum Überleben. Diese "Autopoesie" steht für die
Konstruktion der Grenze zur Außenwelt und die inneren Komponenten des Menschen.
Dafür ist der Begriff "Passung" sehr wichtig - das passende
Verhältnis zwischen Arzt und Patient. Selbst die Geisteswissenschaft,
namentlich der "Konstruktivismus", dessen Standartwerk von Berger und
Luckmann Furore machte, schrieb schon vorher: "Der Mensch ist biologisch
bestimmt, eine Welt zu konstruieren und mit anderen zu bewohnen. Diese Welt wird
ihm zur dominierenden und definitiven Wirklichkeit. Ihre Grenzen sind von der
Natur gesetzt. Hat er sie jedoch erst einmal konstruiert, so wirkt sie zurück
auf die Natur. In der Dialektik zwischen Natur und gesellschaftlich
konstruierter Welt wird noch der menschliche Organismus umgemodelt. In dieser
Dialektik produziert der Mensch Wirklichkeit - und sich selbst."
Hontschik plädiert vor diesem Hintergrund völlig richtig für eine integrierte
Medizin als Humanmedizin für Menschen, in der die Psychosomatik eine Lösung
bleibt, und zwar als "unzerstörbare Basis der Heilkunst". Der Begriff
"Humanmedizin" oder "integrierte Medizin" bekommt mit dem
vorliegenden Buch, welches damit eine lange Tradition fortsetzt, erstmals und
endlich wieder einen neu durchdachten und empirisch belegten Sinn.
Fazit
Das Buch ist Ausdruck eines Paradigmenwechsels, der sich längst auch in der
Geisteswissenschaft durchgesetzt hat. Auch möglichst viele Ärzte sollten sich
dieser integralen Intelligenz nicht mehr verschließen.
Vorgeschlagen von Daniel Bigalke
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veröffentlicht am 04. November 2007 2007-11-04 10:56:51