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Bernd Hontschik: Körper, Seele, Mensch. Versuch über die Kunst des Heilens

Körper, Seele, Mensch. Versuch über die Kunst des Heilens

von Bernd Hontschik
Verlag: Suhrkamp Verlag [mehr Bücher von diesem Verlag zeigen]
Sparte: Sachbuch
ISBN-13 978-3-518-45818-1

Preis: 7,99 Euro bei Amazon.de [Stand: 25. Dezember 2024]
Traktate über die Heilkunst haben eine lange Tradition. Sei es Paracelsus oder Hahnemann, Hildegard von Bingen oder Hans Blüher - die Geschichte der Gedanken über eine umfassende Heilung von Menschen ist umfassend. Und dennoch scheint die heutige Schulmedizin eben umfassendere Konzepte, integrale Ansätze zur Heilung und alternative Erwägungen über Gesundheit und Krankheit im Rahmen von Profitdenken und des Ausbaus von Arztpraxen in unermeßliche "Gesundheitszentren" mit einbegriffenen Apotheken-Zentren zum sofortigen Kauf von Medikamenten als überflüssig an den Rand zu drängen.

Hans Blüher (1888-1955), Soziologe der Jugendbewegung in den 20er Jahren, verfaßte als letzter ein nahezu zeitlos und unangreifbares philosophisches Werk. Sein "Traktat über die Heilkunde", eine komplexe Metaphysik der Neurose und der Krankheiten mit Bezügen zur Psychoanalyse und Homöopathie, war ein Meilenstein. In ihm ist zu lesen: "Ist jemand krank, so zeigt sich das immer zugleich im Psychischen wie im Physischen, aber es ‚zeigt’ sich nur dort; krank ist immer Man selbst." Blüher drückt damit aus, daß der Akt der Heilung immer ein durchaus individueller ist, daß jeder seine eigene Krankheit wie sein eigenes Gesicht hat und deshalb individueller Behandlung und Gespräche bedarf. Man könnte sogar im Sinne Hölderlins, Nietzsches oder Rilkes zugespitzt sagen: Jeder hat seinen eigenen Tod bereits in sich und muß ihn bis zum Ende tragen. Ich erwerbe mir diejenige Krankheit, auf die ich wesensgemäß gestimmt bin. Es herrscht eine Passung vor. Die Schulmedizin mag mit solcherlei Auffassung wenig anzufangen. Dennoch - sie ist im Kommen und wird sich durchsetzen. Denn wer heute über die Medizin im 21. Jahrhundert nachdenkt, verspürt Unbehagen: unverstandene, "produktiv" abgehandelte Patienten und von Bürokratie sowie Kostenerwägungen zermürbte Ärzte prägen das Bild der Gegenwart.

Bernd Hontschik, praktizierender Arzt, setzt dieser Entwicklung mit seinem vorliegenden Buch einen wirksamen Stein in den Weg und berichtet über seine tägliche Arbeit. Er plädiert dezidiert für ein Umdenken in der Medizin. In seinem ersten Band der neuen Reihe medizinHuman geht es um die erwähnten Irrwege der hochgerüsteten Medizin und die Notwendigkeit ärztlicher Kreativität auch in Richtung auf die psychosoziale Lebensrealität des Menschen. Er schreibt: "Die individuelle Lebenskonstruktion eines Menschen in Krankheit und Gesundheit zu erkennen und damit im Sinne einer Heilkunst zu arbeiten verspricht aber weder Profit noch Macht." Und dennoch ist sein Buch der Beginn einer entsprechenden Umkehr. Das Unbehagen bei Arzt und Patienten im Zuge von Tendenzen, die er als "Globalisierung - Industrialisierung - Entsolidarisierung" kennzeichnet, gilt ihm als zu überwindendes Produkt des entgrenzten Markt- und Konkurrenzdenkens in der Medizin, die wenig Beachtung und Mittel für die Erforschung biopsychosozialer Zusammenhänge übrig habe. Mit entsprechender Folge, die Hontschik in nicht von der Hand zu weisende Fragen münden läßt: Warum heilen Wunden entgegen aller Logik nicht zu? Warum wirken Medikamente manchmal und manchmal nicht? Seine Antwort ist, daß der Arzt eben beispielsweise keinen Diabetes behandelt, sondern einen Menschen, der durch Diabetes zum Patienten geworden ist. Er behandelt eine individuelle Lebenswirklichkeit. Jedes Symptom habe eine Bedeutung und die intime Arzt-Patient-Beziehung - Ausdruck eines weniger profitorientierten Gesundheitswesens - sei der Schlüssel, diese zu realisieren. Der Mensch ist eben weit mehr als eine "triviale Maschine", und die Kunst des Heilens besteht darin, ihn auch so zu behandeln: als Einheit von Körper und Seele.

Überzeugend und spannend zu lesen sind die Beispiele, mit denen der Autor seine Auffassungen gleichsam empirisch belegt. So gibt es für ihn individuelle Lebenswirklichkeiten, die manchmal im Rahmen eines Adoleszenzkonfliktes zwischen Tochter und Eltern in Form eines Initialritus entladen werden, sprich: Appendektomien - Blinddarmentfernungen - bei jungen Mädchen Montag früh auf hysterisches Drängen der Eltern hin kommen statistisch sehr oft vor. Sie enden nachweisbar in Placebo-Operationen, in denen der Arzt nichts wirklich verbessert, sondern nur die Erfahrung der Operation die Familie im Sinne eines Verbesserungsgefühls eine "Genesung" wahrnehmen läßt, obwohl die Operation nicht notwendig gewesen wäre. Einmal mehr bestätigt sich hier, daß Körper und Seele zusammengehören, daß der Dualismus der Schulmedizin einer wirklich innovativen integralen Medizin weichen muß, die nicht leichtfertig als "Esoterik" zu schelten ist. Eine Medizin für "Körper ohne Seelen", die nur auf den Austausch defekter Teile aus ist, und eine "Medizin für Seelen" ohne Körper, die nur in der Psychotherapie ihren Ausweg findet, verknüpft der Autor damit zur Synthese. Diese weiß, daß Liebe, Haß, Scham und Trauer eben im Körper auch eine organische Grundlage haben, was die mechanistische Schulmedizin nicht erkennt, weil sie zur Profitmaschine wird.

Noch weitere Beispiele bietet der Autor. Die individuelle Lebenskonstruktion eines Ehepaars kann z.B. die Wundheilung hemmen oder beschleunigen. Heilung kann zum sozialen Zerwürfnis führen, wenn die Fürsorge für eine Wunde eine Ehe zusammenhielt. Die Konstruktion individueller Lebenswirklichkeit gehört für Hontschik deshalb zum Überleben. Diese "Autopoesie" steht für die Konstruktion der Grenze zur Außenwelt und die inneren Komponenten des Menschen. Dafür ist der Begriff "Passung" sehr wichtig - das passende Verhältnis zwischen Arzt und Patient. Selbst die Geisteswissenschaft, namentlich der "Konstruktivismus", dessen Standartwerk von Berger und Luckmann Furore machte, schrieb schon vorher: "Der Mensch ist biologisch bestimmt, eine Welt zu konstruieren und mit anderen zu bewohnen. Diese Welt wird ihm zur dominierenden und definitiven Wirklichkeit. Ihre Grenzen sind von der Natur gesetzt. Hat er sie jedoch erst einmal konstruiert, so wirkt sie zurück auf die Natur. In der Dialektik zwischen Natur und gesellschaftlich konstruierter Welt wird noch der menschliche Organismus umgemodelt. In dieser Dialektik produziert der Mensch Wirklichkeit - und sich selbst."

Hontschik plädiert vor diesem Hintergrund völlig richtig für eine integrierte Medizin als Humanmedizin für Menschen, in der die Psychosomatik eine Lösung bleibt, und zwar als "unzerstörbare Basis der Heilkunst". Der Begriff "Humanmedizin" oder "integrierte Medizin" bekommt mit dem vorliegenden Buch, welches damit eine lange Tradition fortsetzt, erstmals und endlich wieder einen neu durchdachten und empirisch belegten Sinn.
Fazit
Das Buch ist Ausdruck eines Paradigmenwechsels, der sich längst auch in der Geisteswissenschaft durchgesetzt hat. Auch möglichst viele Ärzte sollten sich dieser integralen Intelligenz nicht mehr verschließen.
10 Sterne10 Sterne10 Sterne10 Sterne10 Sterne10 Sterne10 Sterne10 Sterne10 Sterne10 Sterne

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Vorgeschlagen von Daniel Bigalke [Profil]
veröffentlicht am 04. November 2007

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