Der Achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte meint den Tag des Jahres 1851, an
dem der Neffe Napoleons durch einen Staatsstreich die traurigen Reste der
revolutionären parlamentarischen Republik beseitigte. Die vorliegende Schrift
hat eine Schlüsselstellung inne, sowohl bei Karl Marx (1818-1883) als auch in
der politischen Theorie. Sie wurde 1851 geschrieben und erschien -
erstaunlicherweise - zunächst in den USA. Hier analysiert Marx detailliert den
Staatsstreich Louis Bonapartes am 2. Dezember 1851 in Frankreich. Er weist nach,
daß der Staatsstreich das Ergebnis der vorhergegangenen Entwicklung, die Folge
der konterrevolutionären Haltung der Bourgeoisie war. Marx entwickelt am
Beispiel Frankreichs die Rolle des Klassenkampfes als Triebkraft der Geschichte
und zeigt die Widersprüchlichkeit der bürgerlichen Demokratie auf.
Spannend hierbei ist, daß zugleich die Vorliebe vieler Demokratiekritiker für
dieses Werk Marxens verständlich wird. Der wichtigste in dieser Arbeit
enthaltene Topos ist die Weiterentwicklung der marxistischen Staats- und
Revolutionstheorie. Marx weist nach, daß alle bürgerlichen Revolutionen den
alten Staatsapparat nur übernommen und zur Unterdrückung der ausgebeuteten
Klassen weiter vervollkommnet haben. Er stellt zum ersten Mal die These auf,
daß das Proletariat den alten Staatsapparat nicht übernehmen darf, sondern ihn
vollends zerschlagen muß. Es handelt sich also um eine Theorie der Revolution
und ihrer potentiellen Niederlage - der Konterrevolution, und zwar in Form einer
historisch-wissenschaftlichen Darstellung. Damit zusammen hängt ein
marxistisches Lieblingsthema, welches bis hinein in die rechtskonservative
Staatstheorie oft beeindruckt hat - der Umschlag der Revolution in
Konterrevolution und Autoritarismus sowie die düstere Dialektik der
Verselbständigung des Staates hin zur autoritären Herrschaft.
In seinem Nachwort und dem ausführlichen Kommentar spricht der Politologe Hauke
Brunkhorst davon, daß der Bonapartismus eine "vulgäre Despotie eines
Erbschleichers" sei. Die von Marx beschriebene Ereigniskette, die von der
Revolution im Februar 1848 bis zum Staatsstreich Louis Bonapartes 1851 reicht,
liest sich spannend, manchmal etwas zu detailliert. Um den Verlauf des
Staatsstreichs zu erklären, erweitert Marx in seiner Analyse das betrachtete
Klassenspektrum neben den Hauptklassen einer bürgerlich-kapitalistischen
Gesellschaft, der Bourgeoisie und dem Proletariat, um die Bauernschaft, in der
er entscheidende Kräfte für den Verlauf der Machterlangung Louis Napoleons
sieht. Dies begründet er sowohl mit materiellen wie ideologischen Momenten. So
sei zum Beispiel das Volk durch die Zusicherung sozialer und politischer
Reformen auf die Seite Louis Napoleons gezogen worden. Die Macht Bonapartes
resultierte auch aus der Organisation von Geheimgesellschaften des Proletariats
in Paris; die Bourgeoisie war gespalten in Finanzbourgeoisie und
Großgrundbesitzerbourgeoisie; zwischen der Bourgeoisie und ihren
parlamentarischen Kräften entstand ein Bruch, diese stellte sich auf die Seite
Bonapartes mit der Folge einer restaurativen Periode. Er operierte mit den
gesellschaftlichen Gruppen und spielte eine gegen die andere aus. Marx stellt
fest, daß eben neben der Macht des Ökonomischen und des Politischen die
Gewinnung der Massen für die eigenen Ziele entscheidend sei, um
gesellschaftliche Entwicklungen zu beeinflussen. So legitimierte Napoleon seine
autoritäre Herrschaft auch anhand von Wahlverfahren und Plebisziten - eben
über eine demokratische Fassade. Insgesamt eine recht komplexe Angelegenheit,
wäre nicht der beigefügte Kommentar Brunkhorsts angefügt, der für
Theorieeinsteiger diesen komplizierten Text lesbarer macht. Man sollte die
Ausführungen des Kommentars parallel verfolgen, um nicht im faktengetränkten
Originaltext zu versacken.
Interessant sind im Kommentar die Verzweigungen, die Brunkhorst in der
Verfassungslehre des 20. Jahrhunderts aufzeigt, insbesondere bei Carl Schmitt.
"Schmitt hat jedoch, ganz wie die Leninisten, den Achtzehnten Brumaire nur
verwendet, um die Unmöglichkeit einer parlamentarischen Verfassung der modernen
Massendemokratie zu begründen." In der Tat - Schmitt formulierte die
These: parlamentarische Herrschaft sei nur als Herrschaft einer in sich
homogenen besitz- und bildungsbürgerlichen Klasse über alle anderen Klassen
möglich und Massendemokratie nur als Führerdemokratie, wie diejenige
Bonapartes. Die Ordnungsimpulse Schmitts gleichen aber durchaus denen Lenins,
der den Kampf gegen die französischen Linkskommunisten propagierte und
Querulanten auszuschalten gedachte. Hier steht das Ordnungsprinzip Staat
(Schmitt) analog zum Ordnungsprinzip Tscheka (Lenin), welches bedeutet
"Außerordentliche Allrussische Kommission zur Bekämpfung von
Konterrevolution". Louis Bonaparte - bei Marx wiederum - wiegelte das Volk
eigenhändig gegen die störenden Parteien auf. Er hatte eine starke Truppe bei
sich, nach Marx die "Abenteurer der Nation". Das ist die erste Form
des heute so oft beschworenen "Populismus". In diese Tradition werden
sich bekanntlich die NSDAP und die SA stellen. Empfehlenswert ist an dieser
Stelle die Tabelle zur Darstellung des marxschen Textes und des Ablaufs des
Staatsstreiches auf Seite 267 der vorliegenden Studie.
Schade nur, daß Brunkhorst diese Zusammenhänge nicht vertieft, sondern sich
auf eine Kritik versteift, die Jürgen Habermas’ an Schmitt übte. Griffen
doch selbst die Sozialdemokraten in der Krise Weimars, als ihr
sozialrevolutionärer Impuls noch wirkte, ausdrücklich auf Carl Schmitt und auf
Marx zurück, weil beide Dialektiker des Konkreten sind und eine potentielle
Ausartung in die Diktatur erkannt haben. Sie waren eben Ernstfalldenker.
Dennoch, trotz des überzeugenden Eindrucks, den Marx mit seiner Schrift
hinterlässt, Kritik am Bonapartismus aufgrund einer denkbaren Labilität
desselben ist möglich. Es besteht in ihm die Tendenz, soziale Konflikte nur
über den Staat zu steuern. Im Bonapartismus dominiert keine Klasse. Die
politische Arbeiterbewegung ist durch Verbote und Verhaftungen zerstört. Die
Bourgeoisie ist ebenso moralisch und technisch ausgezehrt. Das könnte eine
hervorragende Bedeutung für die Armee haben, die von der Bauernschaft getragen
wird und einziger Garant der Staatlichkeit ist - über einen militärischen
Despotismus. Das Militär regelt das zivile Leben und an der Spitze steht der
Bonaparte. Über einen Kreditschwindel werden die politischen Führer gekauft,
auch die Arbeiterführer. Es besteht permanente Kriegsgefahr und im Krieg ist
die neue Revolution - der Feind des Bonapartismus - wieder sehr leicht möglich.
Ist Carl Schmitt Bonapartist? Diese Frage wird im vorliegenden Kommentar nicht
ausgibig beantwortet. Die "Bonapartisierung" bei Marx ist das
theoretische Gegenteil zur "schleichenden Demokratisierung" bei
Schmitt, d.h. die schleichende Auflösung der Staatsgewalt. Die bonapartistische
Diktatur ist der Beweis für die Transformation der parlamentarischen Demokratie
in eine Diktatur - das Schrecknis, als dessen Initiator viele Leser Schmitt
ausmachen. Es wurzelt aber auch in der marxistischen Bonapartismustheorie.
Insofern ist Schmitt Bonapartist. Zudem verbindet Marx mit Schmitt die radikale
Gegnerschaft zum illusionären Liberalismus.
Die Bedeutung der marxschen Bonapartismusauffassung und damit der vorliegenden
Schrift in der soziologischen Staatstheorie ist nicht zu unterschätzen. Die
Einheit organisierter Demagogen gegenüber der exekutiven Gewalt des
absolutistischen Staates oder gegenüber der Militärdiktatur bleibt weltweit
aktuell. Bürgerliche Freiheitsrechte können immer als potentiell abstrakt
betrachtet werden. Sie sind damit als moralisches Postulat nicht mehr einklagbar
- wenn kluge Anwälte oder ideologisch voreingenommene Richter des
Bundesverfassungsgerichts es so wollen. Auch das "Recht auf Arbeit"
beispielsweise bleibt ein abstrakter Anspruch. Über Ausnahmeparagraphen wird
gegenwärtig sogar das Postulat der Versammlungsfreiheit in Frage gestellt und
wieder revidierbar gemacht. Die bonapartistische Diktatur ist ein Beleg für
diese potentielle "Transformation der Demokratie" (Johannes Agnoli).
Die vorliegende Schrift gibt ein vortreffliches Bild - ja sogar das erste
überhaupt - bezüglich dieser Evolution der modernen Staatsgewalt hin zur
Despotie ab. Diese Despotie verselbständigt sich gegenüber der Gesellschaft
und wirkt wie ein geschlossenes System, das sich selbst administrativ
organisiert und abschottet. Das Buch der neuen Reihe "Suhrkamp
Studienbibliothek" rückt damit ein Thema kompakt und übersichtlich in den
Mittelpunkt, welches sich offenbar noch nicht erübrigt hat.
Fazit
Für Politikwissenschaftler und Philosophen aller Parteiungen ist die
Bonapartismustheorie ein Muß.
Vorgeschlagen von Daniel Bigalke
[Profil]
veröffentlicht am 26. Oktober 2007 2007-10-26 11:40:55