Das menschliche Wissen von der Welt, den Religionen und den je erstrebenswerten
Lebensweisen ist oft die Welt selber - soweit dieses Denken und Wissen in die
Wirklichkeit drängt. Mein Wissen wird zum Selbstbewußtsein, zu einer in sich
selbst ruhenden Kraft der Erkenntnis meiner Außenwelt. Und so steht der Mensch
oft auf seinem beschwerlichen Weg durch das Leben vor einer Wegegabelung:
Entweder folgt er seiner Berufung und versucht seinem inneren Gefühl und seinen
persönlichen Fertigkeiten gemäß einen Beruf, einen Ort der
Lebensverwirklichung in Frieden zu finden, die zugleich der notwendigen
Wechselhaftigkeit des Lebens gerecht wird, oder aber er liefert sich an den
Fluss des Lebens ganz aus, sucht von Zeit zu Zeit nach vermeintlich erfüllenden
Genüssen, steht aber nicht fest in seinem Denken, seinen Überzeugungen und
seinem Wirken während seines Weges durch das Leben.
Unsere Welt ist eine sich wandelnden Welt. Steine sind in ihr das Sinnbild des
Dauerhaften und Beständigen - innerhalb des Wechselhaften. Sie liegen entweder
auf dem Weg, können umschifft und konstruktiv überwunden werden oder sie
liegen im Weg, bringen uns zum scheitern, verzweifeln, treiben uns in den
Suizid. Steine erfüllen eine Funktion, die ihnen allein der jeweilige
Betrachter zukommen läßt, der sich damit selbst vor die beschriebene
Wegegabelung stellt und eine Entscheidung fällt. Zu dieser Entscheidung können
uns die Steine auf dem Weg drängen.
In einer existentiellen Krise und vor ähnliche Herausforderungen der
Lebensbewältigung gestellt lebt die Hauptfigur des vorliegenden Buches Harun in
den Felsenhöhlen von Petra. Eine Bruderschaft nimmt sich seiner an und rettet
ihn vor dem Suizid. Nach seiner Initiation wächst er in eine völlig neue Welt,
bestehend aus Menschen verschiedener Kulturen und Religionen. Harun hat mit
seinem alten Leben abgeschlossen. Auf dem Höhepunkt der Krise entdeckt er in
den Felsentempeln, in denen er haust, merkwürdige Gestalten. Sie entpuppen sich
als eine Gruppe aus Archäologen und Einheimischen, die sich regelmäßig zu
Ritualen und Zusammenkünften treffen.
Der Autor Werner Walter Güttler, Ehrenbürger des Staates Jordanien und
wohnhaft in Hannover, bietet hiermit einen geschichts- und zugleich
informationsgetränkten Traumroman dar, der in sich viele Geschichten
beinhaltet, welche die ethnischen Hintergründe der vorderasiatischen Kultur und
Religion beleuchten und in eine wunderschön lesbare Korrelation zu der
Landschaft des vorderen Orients stellen. Zugleich kommt er dabei nicht umhin,
auf Vergleiche dieser kulturellen Darstellung mit laufenden Traditionen
gnostischer, alchemistischer und rosenkreuzerischer Strömungen in Europa
einzugehen.
In dieser Erzählung, die nunmehr erweitert und gestrafft die Fassung einer
bereits 1987 erschienenen Schrift wiedergibt, werden in spannenden Dialogen
religiöse Unvereinbarkeiten überwunden. Aktuell ist das vorliegende Buch
angesichts der unverändert aufbrechenden Bruchlinien zwischen dem Orient und
dem Abendland nach dem letzten Irak-Krieg. Und so läßt Güttler mehrfach seine
Hauptfiguren zu der Erkenntnis gelangen, daß Toleranz zuvorderst Verständnis
für kulturelle Hintergründe braucht. Damit kann dieses Buch als zauberhaftes
Plädoyer für eine Phänomenologie der jeweiligen Kulturen gelesen werden, als
großartige denkerische und erzählerische Leistung, die in der Felsenwelt der
alten Nabatäer-Hauptstadt Petra im heutigen Jordanien spielt.
Mit sorgfältiger Authentizität werden freimaurerische Ideen und Rituale
dargestellt und in logischer Tiefe entwickelt. Der Hauptakteur Harun wächst
innerlich von einem vorurteilvollen Eiferer heran zu einem toleranten und
selbstbewußten Kosmopoliten. Kapitelüberschriften wie "Die Berufung zum
Beruf" (166), "Die Erziehung des Zweiflers" (213), "Die
Verträglichkeit des Seins" (357), "Die Fäule im Fleisch" (371)
oder "Der Abschied des Lebens" (535) reizen förmlich den suchenden
Leser dazu, ununterbrochen weiter zu lesen, weiter zu ergründen, der Frage nach
dem Wie und Warum des Lebens über dieses Buch die individuelle Antwort zukommen
zu lassen. Er erkennt zugleich, seinen eigenen Geist und sein Streben im Leben
von dem trennen zu können, was andere von ihm als gut erachten. Der eigentlich
lebende Mensch lebt und denkt auf individuelle Weise integral - sowohl auf
kultureller als auch religiöser Ebene. Er findet diesen Weg selbst, über alle
Hindernisse und selbst auferlegte Martyrien - über alle "Steine auf dem
Weg" - hinweg und gelangt zu höherem Bewußtsein.
Dafür bietet Güttler schließlich sogar Lösungen im Umgang mit Religionen an:
"Nenn ihn, wie du willst: Allah, Gott oder mit verschiedenen Namen aller
Religionen und Philosophien der Menschen. Löse ihn zuerst von dem erfundenen
Namen, verstehe ihn wirklich in seiner Macht, dann ist auch seine ordnende
Kraft, das Väterliche, das uns helfend und dienend Zugestellte." Oder:
"Gott ist nicht mit unseren Sinnen zu fassen. Gelingt es dir aber, von
Allah so schlicht zu denken, dann bist du fähig, jeden anderen Menschen in
seiner Religion zu würdigen." Ergänzt werden diese Lebensweisheiten durch
bildliche Veranschaulichungen darüber, welche Vorstellungen aus Altägypten,
Mesopotamien sich mit altsemitischen und hethitischen Philosophien vermischten.
Was diese Traumlegende ausmacht, ist ihr Kenntnisreichtum altweltlicher Religion
und Spiritualität. Sie ergibt das praktizierte Bild einer fruchtbaren
Konvergenz von rationaler Wissenschaft und zugleich träumerisch-narrativer
Leidenschaft, um schließlich als Meisterwerk des Denkens überhaupt eine
Bastion menschlicher Lebens- und Realienkunde in Romanform zu werden, wie sie
der eingeweihte Leser nur noch von dem Urtypus dieses Genres, nämlich von
Baltasar Graciáns "Kritikon" (1651), kennt.
Ganz klar hierbei, daß existenzielle Lebenserkenntnisse konsequent auszuleben
anempfohlen werden: "Unser Sein ist zwischen Entstehen und Vergehen
eingefügt, darum kann es nicht verharren, sondern muß fortschreiten, Erwartung
aufnehmen und Verzicht entlassen, bis es vor der letzten, höchsten Erwartung
ankommt, dort, wo es dann auf alles verzichten muss, was es handelnd lebte,
erlebte." Dieses Buch ist jenen Denkenden und Suchenden zu empfehlen, die
sich endgültig von partikularer Bedrängnis im Geiste befreit haben und das
Ganze konsequent selbst zu denken wagen.
Fazit
Umassende Lektüre, die sich aber durch ihren Effekt beim Leser rechtfertigt.
Vorgeschlagen von Daniel Bigalke
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veröffentlicht am 04. Oktober 2007 2007-10-04 11:35:39