Der Begriff der "wissenschaftlichen Begründung" des Sozialismus ist
eine inflationär gebrauchte Phrase, die angesichts ihres zum geflügelten Wort
gewordenen Wesens kaum mehr der Erwähnung würdig ist - ebenso ihr in Trier
geborener und in London wirkender Initiator. Aber wie steht es um die
wissenschaftliche Begründung des Atheismus? Ist so etwas denkbar? Diese Frage
ist zu bejahen, denn seit Neuem rückt ein kurz gelebt habender und lange
vergessener Philosoph in den Vordergrund zahlreicher Publikationen, deren wir
hier eine zentrale vorliegen haben, die das Gesamtwerk desselben auf wenigen
Seiten leserlich versammelt. Der Philosoph heißt Philipp Mainländer.
Nachdem der Berliner Privatgelehrte Winfried H. Müller-Seyfarth die Herausgabe
der Mainländer-Gesamtausgabe absolvierte und im Rahmen der Gründung der
"Internationalen Mainländer-Gesellschaft e.V." 2005 in Offenbach der
Band "Was Philipp Mainländer ausmacht" erschien, liegt hiermit ein
optimaler Werksquerschnitt zur Einführung vor. Ulrich Horstmann, der
Herausgeber, hat vor allem durch seine Streitschrift "Das Untier"
(1983) eine Bekanntheit erlangt. Mit seiner bereits 1989 im Insel Verlag
vorgelegten und hier noch einmal ergänzten Auswahl aus dem Werk des Offenbacher
Philosophen Mainländer betont Horstmann nochmals sein Anliegen: Das Werk des
Ausnahmemenschen Mainländer, der sich in der Nacht zum 1. April 1876, genau
einen Tag nach dem Erscheinen seiner 1.300 Seiten umfassenden "Philosophie
der Erlösung", das Leben nahm, muß gelesen, muß neu verstanden werden.
Der tragische Philosoph spürt den tiefsten Schmerz, der alle optimistischen
Erklärungen des Daseins entwertet. Er erkennt Dissonanzen und Disharmonien. Er
erkennt sie als unweigerliche "Realdialektik" (Bahnsen) an und
akzeptiert die Hegelschen Synthesen nur auf der Ebene der Abstraktion. Trotzdem
ist aus seiner Sicht tragische, oder besser, melancholische Dichtung von
passivem Pessimismus genauso weit entfernt, wie von düsterer Todessehnsucht. -
Genau das macht das vorliegende Buch lesenswert.
Kraft seiner unglaublichen Eingebung entwirft Mainländer die erste und einzige
Metaphysik der Entropie, die in zahlreichen Punkten unser
naturwissenschaftliches Weltbild vorwegzunehmen scheint. Gleich vorweg - es geht
dabei nicht leichtredend um Irrsinn, Debilität und Lebensmüdigkeit, sondern um
die Bereitschaft, die Widrigkeiten des Lebens tatsächlich zu erspüren und in
eine Philosophie der Erlösung einzubetten. Und so läßt sich Mainländers
Metaphysik der Entropie, des Verfalls, seine Wissenschaft des Atheismus so
resümieren:
1. Gott wollte das Nichtsein.
2. Sein Wesen war das Hindernis für den sofortigen Eintritt in das Nichtsein.
3. Das Wesen, die vorweltliche Einheit, mußte zerfallen in eine Welt der
Vielheit, deren zunächst lebendige Teile nach dem Nichtsein streben.
4. In diesem Streben hindern sie sich gegenseitig und kämpfen.
5. Die ganze Welt hat das Ziel des Nichtseins - sie unterliegt der
kontinuierlichen Schwächung von Lebenskraft.
6. Jedes Individuum wird durch Schwächung seiner Kraft zu einem Punkte
gebracht, wo seine Vernichtung erfüllt wird - unweigerlich. Das von Gott einst
gewollte Nichtsein - nihil negativum - ist erreicht.
Wir durchschreiten also den Prozeß: Ursein - wirkliches Sein - Nichtsein. Gott
erreicht erst durch den Weltprozeß sein vorher ersehntes Nichtsein. Der
wissenschaftliche Atheismus ist - noch vor Nietzsche - begründet. Mainländer
schreibt: "Der Atheismus, wie ihn meine Lehre begründet, (...), gibt dem
großen Problem der Entstehung und Bedeutung der Welt, mit der Lösung zugleich
auch die Erlösung." Zugegeben, ein solches Denken ist
gewöhnungsbedürftig, aber Mainländer lebte des geradlinig, und das ist zu
bewundern. Er setzte das Himmelreich gegen das absolute Nichts, vor dem er sich
nicht fürchtete. Er nahm es mit Gleichgültigkeit hin, weil es ohnehin kommt.
Sein Argument: "Wer das Leben verneint, verschmäht nur das Mittel
desjenigen, welcher es bejaht; und zwar deshalb, weil er ein besseres Mittel als
dieser zum gemeinsamen Zweck gefunden hat." Dieser ist also unweigerlich
bei beiden dadurch, daß das Leben als Entropievermehrer wirkt, der Tod. Durch
diesen Erlösungsgedanken lassen sich die Widrigkeiten des Lebens mit
lächelnder Miene hinnehmen - oder mit Schopenhauer: durch die Kraft der
intellektuellen Anschauung.
So ist es nur konsequent, daß Horstmanns Auswahl den Dichterphilosophen
Mainländer wieder zugänglich macht und neben einschlägigen Kapiteln aus der
"Philosophie der Erlösung" auch die Novelle "Rupertine del
Fino" sowie die Tagebuchblätter "Meine Soldatengeschichte"
versammelt. Es entsteht ein Reanimationsschub, den ein vitales Denken wie dieses
trotz des Themas "Tod" verdient hat.
Einhundertzwanzig Jahre nach Mainländers Freitod ist die Menschheit
desillusionierter als je zuvor. Das pessimistische Weltbild fügt sich in unsere
katastrophenreiche Zeit gleitend ein. Mainländer ist der Prophet, der dem
Menschen in nüchterner Klarheit die Bestätigung gibt, daß Hoffnung nur ein
(gelebtes!) Prinzip sein kann. Er entscheidet sich nicht für den Glauben an
eine Utopie, sondern für den an das Nichts. Sein Werk kann jetzt entdeckt
werden. In ihm führt der Wille zum Leben unweigerlich zum Tode. Bleibt die
Frage: Was führt dann zum Leben? Richtig: Die Gleichgültigkeit gegenüber dem
Tode!
Fazit
Gewöhnungsbedürftig - aber definitv spannend!
Vorgeschlagen von Daniel Bigalke
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veröffentlicht am 22. September 2007 2007-09-22 20:17:05