Johannes Grünberg kehrt aus dem Ersten Weltkrieg nicht zurück. Sein Freund,
der junge deutsche Metzger Fidelis Waldvogel, heiratet 1918 Grünbergs
schwangere Verlobte Eva. Eine gleichmäßig quadratisch geformte Scheibe
Toastbrot - die er glücklicherweise nicht probiert hat - bringt Fidelis auf die
Idee, nach Amerika auszuwandern. Mit einem Koffer, der sein Werkzeug und ein
paar Dauerwürste nach väterlichem Rezept enthält, geht Fidelis 1922 zunächst
allein an Bord der MS Mauretania. In Amerika angekommen, verkauft er nach und
nach seine Würste und fährt mit der Bahn soweit ihn der Verkaufserlös bringt.
In Argus/North Dakota arbeitet Fidelis mit deutscher Präzision als
Metzgergeselle, macht sich schon bald selbstständig und kann Eva und den
kleinen Franz nachholen. Im Gesangverein der Honoratioren des Ortes singt
Fidelis als Tenor. Eva führt die Geschäfte der Metzgerei, bekommt weitere
Söhne und verbreitet in ihrem Haushalt die Atmosphäre von Zimtbrötchen und
Häkelspitzen. Ihre Wege kreuzen sich mit denen der Artistin Delphine, die mit
einem Wanderzirkus herumzieht. Delphine beginnt in der Metzgerei und im Laden zu
arbeiten; als Eva schwer erkrankt, wird Delphine zu ihrer Vertrauten und
unentbehrlichen Stütze. Nach Evas Tod kann Fidelis Metzgerei, Haushalt und
die Erziehung seiner temperamentvollen Söhne nur mit Delphines Unterstützung
bewältigen. Doch wer auf eine romantische Beziehung der beiden hoffte, wird
enttäuscht. Noch ist Delphine in eine unerwiderte Liebe zu einem anderen Mann
verstrickt. Fidelis ungebärdige Söhne schlagen derweil mit lebensgefährlichen
Streichen über die Stränge. Während der älteste Sohn Franz davon träumt,
Pilot bei der US-Air Force zu werden, überredet Fidelis Schwester Maria Teresa
ihren Bruder, sie mit den beiden jüngsten Söhne zu ihrer Familie nach
Deutschland reisen zu lassen. Es kommt, wie es kommen muss: Franz kämpft im
Zweiten Weltkrieg auf der Seite der Amerikaner, seine Zwillings-Brüder Erich
und Emil als inzwischen überzeugte Deutsche auf der Gegenseite.
Louise Erdrich hat zu einem authentischen Foto ihres Großvaters Ludwig von 1912
mit Fidelis Waldvogel einen fiktiven Charakter geschaffen, der die Generation
deutscher Auswanderer in der Zeit vor der Weltwirtschaftskrise repräsentiert.
Es fällt schwer, sich unter dem Namen Fidelis einen kräftigen deutschen
Metzger aus Süddeutschland vorzustellen. Der junge Fidelis ist ein
gefühlvoller Familienmensch, deutlich geprägt von den Vorstellungen seiner
Zeit, wie ein Mann zu sein hat. Doch diese Vorstellungen stehen seinem
persönlichen Glück immer wieder im Weg. Die zuverlässige Delphine erfüllt
gerade so eben noch die Anforderungen, die in Argus an einen respektablen
Lebenswandel gestellt werden. Von Erdrichs weiteren Gestalten, ihren Schnorrern,
Trödlern, Schnapsschmugglern, Barnstormern und Bestattern kann das nicht
behauptet werden. Fidelis Waldvogels preußisches Pflichtgefühl und
Qualitätsdenken bedient die üblichen Klischees vom effektiven Deutschen. Die
Autorin setzt diesen Klischees schräge Streiche mit Schlachtabfällen, einen
unappetitlichen Mord und die sehr deutliche Schilderung von Krankheit, Tod und
Sexualität entgegen.
Die gebundene Ausgabe erschien unter dem Titel
Der Gesang des Fidelis Waldvogel
Fazit
Wer Sinn für die schrägen Aspekte in Erdrichs Familienepos hat, wird auf 500
Seiten gut unterhalten.
Vorgeschlagen von Helga Buss
[Profil]
veröffentlicht am 01. September 2007 2007-09-01 10:24:41