Wenn der Staat ein Moloch ist
Erfolgt die Wertbestimmung des Menschen innerhalb einer Fassade seiner reinen
Funktionsbestimmung, innerhalb seiner Reduzierung auf ein produktives
Abstraktum, so wächst damit der Leerraum zwischen dem, was der Mensch gern tut,
und dem, wovon er aber abhängt. Hob der Staat einst den freien und einzigen
Menschen hervor, integriert in seine Gemeinschaft und wirkend an seiner ihm
gemäßen Stelle innerhalb eines Ganzen, so wird der Einzelne heute zur
strategisch steuerbaren Spielfigur, eingepaßt in ein politisches System, das
mit begrifflichen Kategorien, Tarifen, Steuern und mit in sich parteilich
rivalisierenden Gruppen operiert. Der Staat begegnet seinem Bürger in amtlichen
Droh- und Forderungsbriefen. Der Einzelne als Bürger aber erkennt im Zeitalter
verarmter kommunaler Finanzmittel kaum noch eine merkliche Gegenleistung,
vielmehr zerstörte Straßen, beschmutzte Parks, beschmutzte Schulgebäude.
Beschäftigung und sozialer Frieden - wenn auch nur konjunkturell, niemals
strukturell gesichert - werden dabei über die finanzielle Abhängigmachung des
Einzelnen vom Staate realisiert. Diese menschliche Reduktion durch den zugleich
existenten Überhang an Lebensstandard bleibt zumeist trotzdem unbemerkt. Sie
geht im Gewandt der Bereicherung einher, betäubt die innere Unruhe, wirkt als
konsumgetränkter Tranquillizer gegen Depression und Angst. Der Einzelne gerät
zur indifferenten Fabrikware des Staates.
Stirners Reflexion
Max Stirner, ein Pseudonym für seinen echten Namen Johann Caspar Schmidt
(1806-1856), machte sich recht früh Gedanken über diese Tendenzen, die heute
recht aktuell anmuten. Sein nunmehr wieder im Area-Verlag vorliegendes
Hauptwerk, zuerst erschienen 1844, ist Ausdruck seiner Reflexion über den
Zustand des Einzelnen in diesen Zeiten der Standardisierung menschlicher
Bedürfnisstrukturen. Das Buch wurde einst, wie alle Beiträge der
junghegelianischen Diskussion, schnell vergessen. Es erfolgten aber zwei
Wiederentdeckungen. Die beiden Stirner-Renaissancen (1893 und 1968) erfahren
hiermit erfreulicherweise eine erneute und wiederum völlig angebrachte
Fortsetzung, war Stirner doch ein Denker, der zu allen Zeiten Intellektuelle als
Fürsprecher fand. Dies waren zumeist die wenigen Erlesenen. Stirner selbst
immatrikulierte sich 1826 an der Berliner Universität, wo er bei Hegel und
Schleiermacher hörte und trat schließlich 1839 seine erste feste Stellung als
Lehrer in Berlin an. Ab 1841 war er Gast einer Gruppierung von oppositionellen
"Intellektuellen" um den Ex-Hegelianer und Ex-Theologen Bruno Bauer,
dem neben Ludwig Feuerbach führenden Kopf der Junghegelianer.
Das Hauptwerk
Stirners Buch "Der Einzige und sein Eigentum" erregte für kurze Zeit
ein von Verboten und Verbotsaufhebungen begleitetes Aufsehen, was die Lektüre
heute umso spannender gestaltet. Sie mag freilich auch heute Zuspruch oder
Ablehnung finden - lesenswert ist sie gerade deshalb. Selbst zur Zeit ihrer
Erscheinung existierten kleinere Gegenschriften, von denen Karl Marx mit seinem
Anti-Stirner in der "Die Deutschen Ideologie" bekannt wurde. Marx
schrieb verächtlich zu Stirner: "Hätte Sankt Max sich die verschiedenen
"Sachen" und "Eigner" dieser Sachen, z.B. Gott, Menschheit,
Wahrheit etwas näher betrachtet, so wäre er zu dem entgegengesetzten Schluß
gekommen, daß ein auf die egoistische Handlungsweise dieser Person basierter
Egoismus ebenso eingebildet sein müsse wie diese Personen selbst." (Karl
Marx, Friedrich Engels: Die Deutsche Ideologie. Kritik der neuesten deutschen
Philosophie in ihren Repräsentanten, Bücherei des Marxismus-Leninismus, Bd.
29, "Sankt Max", S. 109.) Womöglich aber ging es dem bewußten
Solipsisten (Einzelgänger) Stirner mit seinen Begriffen "Eigner",
"Menschheit" und "Wahrheit" nicht nur darum, konventionelle
Institutionen (Familie, Kirche, Staat) vor der zerschmetternden Macht des
Einzigen ausschließlich als Konstrukte zu entlarven, als vielmehr darum, die
Möglichkeit zu betonen, diese Institutionen nötigenfalls in Zeiten ihrer
Degenereszenz aus innerer Unabhängigkeit des Geistes heraus transzendieren zu
können. Stirner nämlich ließ im Zeitalter fortschreitender Dekadenz innerhalb
der Institutionen diese vor der fruchtbringenden Würde des Einzelnen zur
marginalen Nullität werden. Er selbst, wohl wissend, daß sein Staat ein Moloch
war, lebte diese Haltung: Er verbrachte die restliche Zeit seines Lebens,
literarisch kaum noch tätig, in zunehmender materieller Armut und verachtete
den Staat.
Egoismus?
Stirner aber ist kein ausschließlicher Egoist, der behaupten würde, das
einzige "Ich" und Subjekt zu sein, das überhaupt existiert. Er sagt
lediglich - so ergibt sich aus der Lektüre des vorliegenden Buches -, daß der
Einzelne nur bezüglich seines Bewußtseins von den anderen Menschen völlig
getrennt sei, daß zum Beispiel der Schmerz des anderen mich nicht betreffe.
Damit setzt er aber zugleich die Existenz des Anderen voraus. Der Leser hat also
die Möglichkeit, erneut zu erforschen, was Stirner meinte: "Ich setze mich
nicht voraus, weil ich mich jeden Augenblick überhaupt erst setze oder schaffe
und nur dadurch ich bin, daß ich nicht vorausgesetzt, sondern gesetzt bin, und
wiederum nur in dem Moment gesetzt, wo ich mich setze, d.h. ich bin Schöpfer
und Geschöpf in einem." (162) Das Mitgeschöpf ist bei Stirner durchaus
vorhanden, aber ähnlich wie bei Schopenhauer zunächst von der eigenen
Vorstellung abhängig, die mit derjenigen des Anderen niemals kongruent sei. Der
Einzige wird zu seinem eigenen Schöpfer, zum Herrn über seine Gedanken,
jenseits massenmedialer Verunglimpfung und hedonistischen Stumpfsinns. "Wie
ich mich hinter den Dingen finde, und zwar als Geist, so muß ich mich später
auch hinter den Gedanken finden, nämlich als ihr Schöpfer und Eigner."
(13) Damit trennt Stirner den fremden Geist vom eigenen Geist. Im gesamten Buch
werden dabei die Begriffe "Eigner", "Einziger",
"Einzelner" und "Egoist" synonym gebraucht und immer groß
geschrieben. Dazu kommt, daß Stirner auch "unfreiwillige" oder
"unbewußte" Egoisten kennt. Er scheidet den bewußt lebenden Egoisten
dezidiert von jenem, der blind und geschäftig zwar egoistisch seinen
tagesaktuellen Vorteilen hinterherhetzt, aber nicht selbst reflektiert, warum er
diesen karrieristischen Weg geht. Der reflektierte Egoismus hingegen bleibt sich
selbst treu, lebt nötigenfalls in Armut, um den Tag zu genießen und er weiß,
warum er dies tut. "Wem alles darauf ankommt, sich als freier Geist zu
wissen und zu rühren, der fragt wenig danach, wie kümmerlich es ihm dabei
ergehe (...)" (19) Auch "freier Geist" und "bewußter
Egoismus" verwendet Stirner synonym.
"Jeder Staat ist eine Despotie"
Das hier wieder vorliegende Buch Stirners "Der Einzige und sein
Eigentum" blieb philosophiegeschichtlich oft unterschätzt. Daß es aber
eine im Kontrast dazu stehende subversive Wirkung niemals verlor, spricht gerade
für dieses Buch, für seine Leser, zu denen auch Nietzsche gehörte, der aus
ihm seine Übermensch-Theorie schöpfte. Die geneigten Leser Stirners wissen
nach wie vor, daß naiv bejahende absolute Staatsgläubigkeit potentiell
unbewußtes Leben bedeutet. Dieses nimmt dann zu, wenn die Masse nach mehr
Wohlstand strebt und trotzdem zugleich ein Maß an Unzufriedenheit immer wieder
neu reproduziert - die Ansprüche steigen unermeßliche. Stirner mahnt: "Je
freier ich indes werde, desto mehr Zwang türmt sich vor meinen Augen auf, desto
ohnmächtiger fühle ich mich." (164) Die Freiheit des bewußt lebenden
Egoisten müsse also zugleich einhergehen mit einer Reduzierung ökonomisch
konstruierten oder politisch verordneten Zwanges durch den Staat, der immer auch
- selbst im Gewand proklamierter Freiheit - auf die gleichsam potentiell
tyrannische Ausmerzung seiner selbst konstruktiv motivierten Gegner bedacht ist.
"Solange der Staat sich behauptet, stellt er (...) seinen stets
anfeindenden Gegner als unvernünftig, böse usw. dar, und jener läßt sich das
einreden, ja er ist es wirklich schon deshalb, weil er sich’s einreden läßt:
Er ist noch nicht zu sich selbst und zum Bewußtsein seiner Würde gekommen,
mithin noch unvollkommen, noch beschwatzbar. Jeder Staat ist eine
Despotie." (206/207)
Bewußter Egoistmus als Freiheit
Die Logik des Staates bei Stirner tritt in der Mitte des Buches hervor: Solange
der Staat das "Ich" ist, muß das einzelne "Ich" zum Teufel
gemacht werden, ein Nicht-Ich sein - solange es dies mit sich machen läßt.
Dies müsse man aber nicht mit sich machen lassen - meint Stirner und
überträgt damit grandios den fichteschen transzendentalen Idealismus des
freien "Ich" auf die Theorie des possessiven Individualismus John
Lockes, des "unabhängigen Eigners" als Eigner über sich selbst, sein
Eigentum und über seine Haltung zum Staat. Das "Ich" Fichtes wird bei
Stirner absolut. Sein absolutes "Ich" ist weder gut noch böse. Sein
bewußter Egoismus gilt Stirner hier als wahre Freiheit, während das
unablässige vom Opportunismus geprägte Streben ins Nichts grenzenloser
Genußansprüche als unbewußter Egoismus und damit als Knechtschaft gilt.
Bewußter Egoismus im Sinne Stirners läßt sich also durch die diskriminierende
Terminologie des Staates nicht beeindrucken, während die Knechtschaft des
Opportunismus sich um vordergründiger Vorteile willen abduckt. (270) Die
Bewußten aber wissen als "Waldgänger" (Ernst Jünger), daß der
Staat an den vielen bewußt lebenden und denkenden und damit zugleich würdevoll
bleibenden Einzigen scheitern kann, selbst wenn er diese in Permanenz zu
kategorisieren und zu bekämpfen trachtet, ihr Wesen damit aber niemals sinnvoll
erfassen kann. Lassen wir abschließend Stirner aus seinem durchaus lesenswerten
Hauptwerk selbst zu Wort kommen: "Kein Begriff drückt mich aus, nichts,
was man als mein Wesen angibt, erschöpft mich; es sind nur Namen." (400)
Fazit
Stirners Buch "Der Einzige und sein Eigentum" erregte für kurze Zeit
ein von Verboten und Verbotsaufhebungen begleitetes Aufsehen, was die Lektüre
heute umso spannender gestaltet. Sie mag freilich auch heute Zuspruch oder
Ablehnung finden - lesenswert ist sie gerade deshalb.
Vorgeschlagen von Daniel Bigalke
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veröffentlicht am 04. August 2007 2007-08-04 17:41:09