Antaios - Sohn des Poseidon und der Gaia - gewann alle Kämpfe mit
unbezwingbarer Stärke. Er schöpfte seine Kraft beharrlich aus der Erde, seiner
Mutter Gaia, bis ihn Herakles in die Luft stemmte und dort, seiner natürlichen
Energien beraubt, erwürgte. Konnte man übersehen, daß die Erde den Sieg des
Antaios wollte, daß der überdauernde über den später erschienenen Maßstab
dominieren sollte? In diese Frage zumindest gipfelt die antike Überlieferung
und tatsächlich scheint die politische Auseinandersetzung in der Gegenwart
zunehmend in Deutschland wieder zu registrieren, daß aus den Augen des Herakles
immer auch Antaios blickt, daß aus neuen Maßstäben immer die alten blicken,
die sich aus dem Überlieferten - der Erde - speisen, ihren Bezirk verteidigen,
ohne ihn je gewaltsam zu vergrößern. Der Bochumer Politologe Bernard Willms
sprach vom Antaios-Prinzip als einer Maxime, wonach jeder als positiv empfundene
Traditionen anerkennen sollte. Dies sei der nationale Imperativ, der zugleich
lernfähig und dynamisch bleibe. Auch hier erscheint die Verschränkung von
Antaios und Herakles, von Herkunft und Zukunft, der sich so mancher Philosoph
und Denker, heute verschollen im Orkus oberflächlicher Modeströmungen,
verbunden fühlte.
Der konservative und im sachsen-anhaltinischen Schnellroda angesiedelte Verlag
"Edition Antaios" hat es sich zur Aufgabe gemacht, in seiner Reihe
"Perspektiven" über bisher acht erschienene Monographien solche
Denker wieder in den philosophischen, politischen und literarischen Diskurs
einzuführen. Es geht dabei um Autoren, die zumindest aus gegenwärtiger
Perspektive als jenseits der gewohnten Opposition befindlich galten. Daß dieses
apodiktische Urteil des Zeitgeistes aber historische Konfigurationen normativ
bewertet, die - phänomenologisch betrachtet - nicht notwendig in den Bereich
einer dem Urteil zugrunde liegenden Normativität gehören müssen, wird heute
zunehmend in Fachkreisen anerkannt. So läutete bekanntlich Günter Grass mit
seiner Neuinterpretation der deutschen Vertriebenenschicksale nach 1945
("Im Krebsgang") und mit seiner Autobiographie "Beim Häuten der
Zwiebel" (2006) einen entsprechenden Paradigmenwechsel historischer und
politischer Selbstreflexion ein. Nicht zuletzt deshalb ist das viel früher
(2000) begonnene Projekt der "Edition Antaios" zur Wiedereinführung
verborgener Autoren lobenswert. Historische Phänomene - hier Denkstile -
können Hegel zufolge nur dann sinnvoll bewertet werden, wenn der
Bewertungsmaßstab dem zu bewertenden Objekt selbst immanent ist. Die Reihe
"Perspektiven" trägt dem Rechnung. Die teils verschollenen Autoren
sind Georges Sorel, Arnold Gehlen, Botho Strauss, Oswald Spengler, Gerhard
Nebel, Rudi Dutschke, Nicolás Gómez Dávila und Léon Bloy. George Sorel ist
Thema des ersten Buches der Reihe "Perspektiven".
Der kürzlich verstorbene Joachim Fest setzte seinem Buch "Das Gesicht des
Dritten Reiches" (1963) folgendes Diktum voran: "Jahrhunderte braucht
ein Wald, um zu wachsen, in einer Nacht brennt er ab." Es ist dies ein
Zitat von Georges Sorel (1847-1922), der im deutschen Sprachraum nahezu
unbekannt blieb. Er gab zu bedenken, daß das über Jahrhunderte gewachsene
Fundament von Völkern, Staaten und Städten innerhalb weniger Jahre durch den
aufkommenden Totalitarismus, den Wahn der Massen oder aber durch Bomberflotten
der völligen Vernichtung preisgegeben werden kann. Faschismus, Bolschewismus,
Globalisierung - Sorels Intuition erahnte die Verwerfungen des 20. Jahrhunderts.
Erst der Staatsrechtler Carl Schmitt präsentierte ihn in seiner 1926
erschienenen Schrift "Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen
Parlamentarismus" der deutschen Öffentlichkeit. Schmitts Freund Armin
Mohler legt mit seiner Schrift über Georges Sorel nunmehr eine übersichtliche
Studie vor.
"Was sind Regenpfeifer?" (7) - mit dieser Frage konfrontiert Mohler,
bekannt als Autor seiner 2005 in aktualisierter Auflage erschienenen Studie
über die ‘Konservative Revolution’, den Leser zu Beginn.
"Regenpfeifer" seien in Anlehnung an die bekannte Vogelart große
Warner, die Wandel, Fruchtbarkeit und neues Leben ankündigen. Hier - wenig
erstaunlich - ordnet er Sorel ein, der in Anlehnung an die Philosophie Henri
Bergsons (1859-1941) das Festhalten am Wesentlichen in einer sich stetig
wandelnden Wirklichkeit proklamierte. Er spürte die Heraufkunft des Mythos der
politisierten Massen und Wyndham Lewis notierte entsprechend: "Georges
Sorel ist der Schlüssel zum ganzen politischen Denken der Gegenwart."
Mohler gibt zu bedenken, daß gerade Sorel die sakrosankten Diskurse, die sich
herrschaftsfrei geben und dennoch herrschaftszentrierte Monologe mit sich selbst
seien, als "bloße Scheingefechte" (11) entlarvte. Ihnen wollte Sorel
den Generalstreik, das vitale Leben, den Widerstand und den zur Tat drängenden
politischen Enthusiasmus entgegenstellen. Wer war Sorel, der sein Leben
asketisch als Beamter in der französischen Provinz begann und es als Prophet
der schöpferischen Gewalt beendete, auf den sich Mussolini, Lenin und die
syndikalistische Bewegung der romanischen Länder beriefen?
Die Biographie Sorels stellt Mohler übersichtlich in Form von ‘zwei Leben’
dar: Das Leben als Beamter in der Normandie (1870-1882) und das Leben als
Schriftsteller in Boulogne-sur-Seine nahe Paris (1892-1922). Dem schließt sich
die Darstellung seines langen Weges durch die Politik an. Interessant und
ausschlaggebend für den Untertitel "Erzvater der Konservativen
Revolution" erscheint die Hervorhebung von Sorels Zweifel am orthodoxen
Marxismus, der den Begriff Arbeit allein als Druckmittel gegen Ausbeutung und
Pauperisierung zu sehen vermochte. Sorel aber betont, daß Arbeit Opfer,
Begeisterung, Mythos, Verzicht und Lebensschule sei, womit er sich von der
säkular-theokratischen Eschatologie des Marxismus absetzt.
Die Kenntnis der Schriften Ernst Jüngers oder Oswald Spenglers und ihres
heroistischen und kulturpessimistischen Charakters beim Leser vorausgesetzt,
wird nun deutlich, daß hier die Wende zur tragischen, zur
konservativ-revolutionären Weltsicht beginnt, die um die zentrale Rolle von
Begeisterungsfähigkeit, Kampf und Schmerz wußte und diese Kategorien nicht aus
dem Politischen wegzudenken anempfahl, um den von Nietzsche eröffneten Horizont
des Nihilismus zu überwinden. An dieser Stelle beginnt auch bei Sorel die Wende
vom Marxismus zum Revisionismus (1898-1901) sowie zum Revolutionären
Syndikalismus (1902-1909), der den Widerstand gegen die bürgerliche Dekadenz
antrat (32ff.). Den politischen Weg Sorels schließt ein Diktum Mussolinis von
1921 über Sorel ab: "Das ist kein Sozialist in bürgerlicher Sauce... Er
hat etwas erfunden, was es in meinen Büchern noch nicht gibt: Die Verbindung
des Nationalen und des Sozialen." (39). So überrascht es nicht, daß Sorel
bei Marxisten, Syndikalisten, Faschisten und in der Weimarer Republik auch bei
den ‘Konservativen Revolutionären’ Zustimmung verbuchte. Selbst die
Studentenbewegung anno 1968 in der Bundesrepublik konnte von seiner 1908
erschienen Schrift "Über die Gewalt", die quasi prophetisch und
warnend die politischen Umbrüche Europas bis 1945 erahnte, zehren, da sie
beschrieb, wie die Arbeiterschaft wirklich zu begeistern sei.
Die Monographie Mohlers zeichnet sich durch ihre phänomenologische
Herangehensweise aus, die das Phänomen "Sorel" selbst zu verstehen
versucht, ohne es unter Berufung auf eine unhinterfragbare Normativität negativ
zu kategorisieren, was freilich keine Kunst wäre. Über das Zeitalter des
Totalitarismus und dasjenige der bürgerlichen Demokratien bilanziert er:
"Krisensituationen machen immer deutlich, daß das politische Schwergewicht
jenen Zeitgenossen zufällt, die aus tieferen Regionen motiviert werden - ob man
sie nun als ‘Linke’ oder ‘Rechte’, ‘Konservative’, ‘Populisten’
oder was auch immer einstuft. Diesen Mangel haben die Liberalen immer wieder
durch die Selbsternennung zur ‘Mitte’ auszugleichen versucht, über alle
Rückschläge hinweg." (43). Daß Krisensituationen selbst in der
Bundesrepublik eingetroffen sind und die politische "Mitte"
spätestens seit der rot-grünen Koalition wieder zum frequentierten
terminologischen Repertoire avancierte, mag freilich nur ansatzweise die
Relevanz Sorels beweisen. Seiner Person verleiht diese Entwicklung die Bedeutung
eines "Regenpfeifers", der um die Bedrohung von Werte- und
Traditionsfundamenten über alle Parteigrenzen hinweg und um die Notwendigkeit
zur politischen Begeisterung wußte. Wem also die monumentale erstmals 1932 von
Michael Freund verfaßte Studie über Sorel zu groß oder das 1959 von Hans
Barth erschienene Bändchen über "Masse und Mythos" zu veraltet
erscheint, der ist mit Mohlers einführender Studie bestens bedient. Gerade in
Zeiten gesinnungsethischer Tendenzen schlägt es eine Bresche für einen neuen
politischen Realismus.
Fazit
Der berühmte Schöpfer des Begriffs "Konservative Revolution" befaßt
sich hier selbst mit einem Vordenker derselben, was die Lektüre spannend
gestaltet.
Vorgeschlagen von Daniel Bigalke
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veröffentlicht am 26. Juni 2007 2007-06-26 20:54:20