Der Dichter Friedrich Hölderlin (1770-1843) ist in Deutschland und der Welt
mehr durch seinen "Wahnsinn" als durch sein Werk berühmt. Nur so
konnte der Erstherausgeber des hölderlinschen Gesamtwerkes, der 1916 vor Verdun
gefallene Norbert von Hellingrath, 1913 schreiben, dass es lediglich das
"Fremdartige" an der sich in der kurzen Epoche des deutschen Geistes
hervorwagenden Dichtersprache sei, das für "Spuren des Wahnsinns"
gehalten werde. Man erregte sich am Irrsinn und nicht an der Tiefendimension des
Werkes. Hellingrath bestand einst auf der herausragenden Rolle Hölderlins, die
zwar nicht als "Wahnsinn" gelten solle, sondern als herausragende
menschliche Geisteskraft, welche man lediglich im Volksmund kaum anders denn als
"Irrsinn" bezeichnen wollte oder konnte, weil im Volke oft die
geistige Nähe zu oder das Artikulationsvermögen für dergleichen Sachverhalte
fehlte.
Dennoch, einer hat den Zorn Hellingraths und vor allem Hölderlin endlich ernst
genommen: Der durch seine originäre Reflexionstheorie bekannt gewordene
Philosoph Johannes Heinrichs liefert jetzt die erste durchgehend textnah
kommentierende Interpretation zu einem Meisterwerk Hölderlins, dem
"Hyperion". Der Text erscheint in historisch-kritischer Version neben
dem Kommentar, der durch philosophische Interpretationshypothesen ergänzt wird.
Die Tragweite des Werkes Hölderlins eröffnet sich unweigerlich: "Eines zu
sein mit Allem, das ist Leben der Gottheit, das ist der Himmel des
Menschen." Und so ist der "Hyperion" Träger einer aktuellen
Botschaft: Die heutige politische Erneuerung muss basieren auf einer
"Revolution der Gesinnungen und Vorstellungsarten" (Hölderlin).
Heinrichs schreibt an zentraler Stelle in seinem Buche zum selben Sachverhalt:
"Es sei aber nicht Schuldgefühl, was unser Verhältnis zu diesem zwar
nicht breitesten, doch tiefsten und musikalischsten seiner Dichter primär
bestimmen sollte, sondern: künstlerisch-philosophische Einsicht, zusammen mit
geschichtlicher Selbstbesinnung auf die bisher nicht erfüllte
philosophisch-politische Mission Deutschlands in der Mitte Europas. Man muss
nicht die alleinige Schuld Deutschlands am Ersten Weltkrieg akzeptieren, um zu
erkennen: Eine kulturell geprägte Nation, die sich zwei Weltkriege leisten
konnte, hat vermutlich dabei ihre eigentliche Mission verfehlt. (...) Es geht
heute um eine friedliche Revolutionierung der Demokratie von Grund aus, d. h.
von den geistigen Grundlagen her. Deutschland wäre heute als ‚Land der (auch
demokratietheoretischen) Ideen’ berufen, endlich den Anfang zu machen. Noch
immer scheint das Wort des Hölderlin-Liebhabers Marx zu gelten: ‚Das
gründliche Deutschland kann nicht revolutionieren, ohne von Grund aus zu
revolutionieren.’ Und auch folgendes Wort jenes radikalen Demokraten liegt
ganz auf der Linie Hölderlins: ‚Die Emanzipation des Deutschen ist die
Emanzipation des Menschen. Der Kopf dieser Emanzipation ist die Philosophie.’
Wobei Hölderlin diese in enger Verbindung mit der Kunst sieht. Zu dieser
integralen Humanität auf philosophischen Grundlagen kann selbstverständlich
ein Dichter-Philosoph wie Hölderlin erheblich beitragen, immer noch."
(541)
Damit verdeutlich Heinrichs - exemplifiziert an Äußerungen großer anderer
Deutscher - die eminente Bedeutung der deutschen Geistestradition für die
Optimierung philosophisch-politischen Denkens der Gegenwart. Seine Darlegungen
sind dazu geeignet, entsprechend die gleichsam "kopernikanische Wende"
innerhalb der bundesdeutschen Politologie der Nachkriegszeit zu erwirken: Ein
Besinnen der Politikwissenschaft nicht auf implementierte Demokratievorstellung
einer nach dem Kriege verordneten "Demokratiewissenschaft"
partikularer Partei-Dogmatik, sondern der Rekurs auf die eigenen deutschen
demokratiephilosophischen Wurzeln, die seit Hegel integralen, vom Ganzen her
denkenden Charakter trugen, ist vonnöten.
Diese neue Hyperion-Analyse erscheint zum 200-Jahr-"Jubiläum" der
Einlieferung des Dichters in den Tübinger Turm am 3. Mai 1807, worin er ganze
36 Jahre zugebracht hat - unverstanden, erniedrigt - bis zu seinem physischen
Tod am 7. Juni 1843. "O, ein Gott ist der Mensch, wenn er träumt, ein
Bettler, wenn er nachdenkt." Hölderlins eigenes Leben war ihm Programm.
Ein mit dem Kommentar von Heinrichs vorgelegtes erneuertes Gedenken an
Hölderlin sind die Deutschen ihrem "vaterländischen" Dichter
schuldig, der an den staatlichen und kirchlichen Verhältnissen seiner Zeit
zerbrach, so wie es inzwischen viele Menschen auch heute wieder tun. Er ist
tragisches Sinnbild des deutschen Geistes, des höheren Reflexionsvermögens und
seines Scheiterns in einer Welt denkerischer Mittelmäßigkeit, die von einer
"Wiederkehr der Götter" in Gestalt erleuchteter Meister nichts wissen
möchte. Und zürnte Hellingrath hauptsächlich deshalb, weil dem Werk niemand
gerecht werden konnte, viele Menschen gleichsam die Brisanz desselben erkannten
und es deshalb verschwiegen, so ist das neue Buch von Heinrichs wohl dazu
angetan, diesen Zorn zu entkräften und neue Dimensionen aufzutun. Es begegnet
Hölderlin endlich auf gleicher Augenhöhe. Daniel Bigalke, Dipl.-Pol.
Fazit
Wer dieses Buch liest, befindet sich bereits im Prozeß der "Revolution der
Gesinnungen und Vorstellungsarten".
Vorgeschlagen von Daniel Bigalke
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veröffentlicht am 23. Juni 2007 2007-06-23 12:54:45