Vor 36 Jahren erschien Gehlens (1904-1976) letztes Werk, in dem er sich in die
politische Vergangenheitsbewältigung Westdeutschlands einmischte, um ihrem
bedrückenden "Humanitarismus" die Idee einer "pluralistischen
Ethik" für differenzierte Gesellschaften und die Idee einer
differenzierteren Argumentationen entgegenzusetzen. Sein Werk wurde rege
diskutiert und gewinnt im Zuge der wieder erstmals gesamtdeutschen Situation
Bedeutung. Der Göttinger Gymnasiallehrer und Historiker Karlheinz Weißmann,
Mitherausgeber der Zeitschrift "Sezession", legt zeitgleich mit der im
Junius-Verlag von Christian Thies verfaßten vergleichbaren Schrift eine
Neureflexion über Gehlen vor.
Das Buch gliedert sich in eine biographische Darstellung, vier Kapitel zu
zentralen Begriffen aus seinem Denken, eine Bibliographie und in ein Kapitel,
das die anthropologischen Fragen Gehlens beleuchtet. In diesem Kapitel stellt
Weißmann heraus, welche Charakterzüge Gehlen bei den Deutschen erkannte:
"den Idealismus, die Todessehnsucht, das Unpolitische" und die sich
darüber wölbende "Formfeindschaft der Deutschen" (92). Damit gelingt
es ihm, die Tiefgründigkeit des gehlenschen Denkens darzulegen, denn
tatsächlich eignet sich jede dieser Beschreibungen für eine charakteristische
Epoche deutscher Geschichte: die Philosophie des 19. Jahrhunderts, den 1.
Weltkrieg, die Weimarer Republik Thomas Manns und die jegliche statische Form
ablehnende Freiheit des "Anarchen" aus Ernst Jüngers Roman
"Eumeswil" (1977), in dem er den deutschen "Anarchen" vom
Destruktivismus des bakuninschen "Anarchisten" absetzt.
Diese Hintergrundinformationen des konservativen Denkens, die zur Bildung eines
angemessenen Eindrucks über Gehlen unerläßlich sind, fehlen in der erwähnten
Monographie von Christian Thies. Weißmann beschreibt eindrücklich, warum sich
Wirtschaft und Verbände um Gehlens Vorträge rissen, seine Lehre aber von
akademischen Fachgelehrten skeptisch beäugt wurde.
Gehlen betrachtet den Menschen in seinem ersten Hauptwerk "Der Mensch"
(1940) analytisch, um zu dem Schluß zu kommen, daß der Mensch aufgrund
defizitärer biologischer Ausstattung ein "Mängelwesen" sei. Daraus
konvergieren mehrere Gedankengänge: Sonderstellung des Menschen, Weltoffenheit,
Instinktreduktion und Antriebsüberschuß, der im Sinne der freudschen
Sublimierung angestaut werden kann, einen Hiatus (Lücke zur
Antriebsbefriedigung) bewirkt und dadurch kulturschöpferischen Effekt hat. Der
Mensch - so Weißmann - wird zum sein eigenes Verhalten steuernden
"Prometheus" (25ff). Interessant ist, daß Gehlen sich auf biologische
Forschungen konzentrierte und sich von der in Philologie verharrenden
Schulphilosophie mit praktischem Anspruch abwandte. In Gehlens Insitutionenlehre
aus "Urmensch und Spätkultur" (1956) hebt Weißmann die Bedeutung von
Ehe, Familie und religiösen Riten in Gehlens Werk hervor.
Der nietzscheanische Einschlag in Gehlens Denken und die resultierende Abwendung
von der traditionellen spekulativen Philosophie der Deutschen werden allerdings
von Weißmann nur geringfügig reflektiert. So hätte er den für Gehlen
wichtigen Begriff der "Kristallisation" aus seinem letztem Buch
"Moral und Hypermoral" (1969), der für Weißmann eine zentrale Rolle
einnimmt (69ff.) und die Versteinerung eines ökonomistischen Systems meint,
tiefgründiger erfassen können. "Kristallisation" meint nicht nur
eine Kultur der Überraschunsglosigkeit und das Verschwinden des Mythischen, was
Gehlen als Verlust der "großen Schlüsselattitüde" kennzeichnete.
Vielmehr meint "Kristallisation" auch den Beginn eines neuen
Zeitalters, den Fluß der Zeit, die Möglichkeit variierender Modalitäten in
der Erscheinungswelt, zumeist als historische Kontingenz bezeichnet. Hier
beginnt die durchaus spekulative Ebene im Werke Gehlens, denn jede Erstarrung
trägt in sich die immanente Tendenz zur konstruktiven Evolution. Nicht jeder
Idealismus ist dahingehend ausschließlich eine Utopie sondern kann auch ein an
der Empirie orientierter realer Idealismus sein. Gehlen selbst - das übersieht
Weißmann - beschreibt in seinem Werk "Der Mensch" die Ebene des
"ideativen" Bewußtseins. Insofern scheint Weißmanns Untertitel
"Vordenker eines neuen Realismus" zwar gerechtfertigt, aber zugleich
im Verkennen seiner idealistischen Substanz, die das nötige Korrelat einer
Ungleichheit darstellt und die jedem Realismus innewohnt, zu reduktionistisch
gefaßt zu sein.
Fazit
Die prägnante Schrift ist sehr zu empfehlen, praktiziert sie doch substanziell
das erfassende Denken selbst, ohne lediglich subjektive Meinungen geltend machen
zu wollen.
Vorgeschlagen von Daniel Bigalke
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veröffentlicht am 19. Juni 2007 2007-06-19 09:21:25