Im Istanbul des 16. Jahrhunderts soll für den Dogen von Venedig im Auftrag
eines türkischen Padischah ein prächtig illustriertes Buch angefertigt werden,
um dem Venezianer mit dieser Gabe die Macht der Osmanen zu demonstrieren. Damit
jeder Buchmaler der riesigen Werkstatt mit 80 Mitarbeitern möglichst wenig
über das Buch erfährt, wird der Text beim Schreiber Lokman in Auftrag gegeben,
die Illustrationen auf vier Buchmaler verteilt: es sind der Vergolder Fein und
drei andere mit den Künstlernamen "Schmetterling, Olive und Storch".
Beaufsichtigt wird die Arbeit vom ersten Buchmaler Osman, dem offiziellen
Vertreter einer streng konservativen Kunstauffassung. Das Vorhaben findet unter
höchster Geheimhaltung statt, weil zum ersten Mal Menschen in der
perspektivischen Darstellung der europäischen Maler portraitiert werden sollen.
Die realistische Darstellungsweise mit Perspektive und Schatten galt im
Osmanischen Reich als Ketzerei. "Die Franken (damit sind die westlichen
Nationen gemeint) malen das, was ihre Augen sehen und nicht, wie der Verstand
den Menschen erblickt." fanden die Buchmaler. Im Osmanischen Reich malte
man, so wie man glaubte, dass Allah die Welt sieht; Bilder waren bis dahin nur
als Illustrationen eines Texts gedacht. Die Maltechnik wurde über Jahrhunderte
hinweg vom Meister an die Schüler weitergegeben, die sie ähnlich streng
einübten wie auch der Koran auswendig gelernt wurde. Ein persönlicher Stil war
höchstens in kleinen Details zu erkennen.
Mitten in diesem anspruchsvollen Buchprojekt wird der Meistervergolder Fein
Efendi tot in einem Brunnen gefunden. Der Tote wendet sich als erste
auftretenden Person an Pamuks Leser. Erschlagen wurde Fein von einer noch
unbekannten Person wegen seiner dogmatischen Haltung, mit der er glaubte, das
Ansehen der Buchmalergilde zu schützen. "Seine Beine sind klüger als sein
Kopf", sagt der Mörder von sich selbst. Der Buchmaler Kara, Feins Neffe,
war kurz zuvor nach 12 Jahren Aufenthalt in Täbris nach Istanbul zurück
gekehrt, um seinem Onkel bei dem geheimen Projekt der Buch-Illustration zu
helfen. Während Kara als junger Schüler seinen Beruf beim Onkel lernte, hatte
er sich unglücklich in seine Cousine Seküre verliebt. Obwohl Seküre
inzwischen mit einem anderen verehiratet ist, liebt Kara sie noch immer. Als
Seküres Söhne treten der kleine Orhan (Pamuk) und sein Bruder Sevket in der
Geschichte auf. Die jüdische Hausiererin Ester sorgt für den Transport
geheimer Briefchen zwischen Seküre und Kara. Weitere Auftritte haben das Bild
eines Hundes, das eines Baumes, eine Münze (denn ohne Geld hätte das Können
eines Buchmalers keinen Maßstab), der Tod, ein Tintenfässchen und die Farbe
Rot. Schließlich, an achter Stelle tritt Seküre auf, die den Tod ihres Vaters
verheimlichen will, bis die Ehe zu ihrem Mann annulliert ist, von dem sie seit 4
Jahren nichts mehr gehört hat.
Als ein Zusammenhang zwischen Feins Tod und der geheimen Tätigkeit der
Buchmaler vermutet wird, sind Olive, Storch und Schmetterling die ersten
Verdächtigen. Der Padischah lässt ihre Häuser nach der fehlenden letzen
Buchseite durchsuchen. Unter dem äußeren Druck scheinen die drei überlebenden
Buchmaler zum ersten Mal über ihr Kunstverständnis, ihren Stil und ihr Ansehen
als Künstler nachzudenken. Kara findet schließlich den, der Fein und Seküres
Vater tötete.
Pamuks Handlung spielt kurz nach der Blütezeit von Kunst und Kultur im
Osmanischen Reich unter Süleyman I. dem Prächtigen. 1571 waren die Osmanen in
der Seeschlacht von Lepanto von den Venezianern und den Spaniern geschlagen
worden und mussten 1671 Kreta an Venedig abtreten. Ende des 16. Jahrhunderts
hatten Militärausgaben und das luxuriöse Leben bei Hofe zu einer
wirtschaftlichen Krise geführt, mit der der Niedergang des Reiches begann. Nach
Pamuks Angaben hat es etwa 2000 Buchillustratoren gegeben, die für hochrangige
Auftraggeber luxuriös ausgestattete Bücher mit Miniaturen versahen. Der Stil
der Buchmalerei war stark von der chinesischen und mongolischen Kultur geprägt.
Der Beruf starb irgendwann aus. Pamuk beschäftigt sich nach eigenen Angaben in
seinen Büchern immer wieder mit der osmanischen Kultur, weil sie ihn vor den
Stürmen westlicher Kulturen schütze und ihm helfe, mit seiner Hassliebe
gegenüber der westlichen Kultur zurechtzukommen
"Rot ist mein Name" ist ein spannender, farbenprächtiger historischer
Roman, indem es auch um die Aufklärung eines Mords geht. Eine wichtige Rolle
spielt die dargestellte Sinnkrise eines Berufsstandes und einer ganzen
Gesellschaft. Wer sich auf die historischen Hintergründe des 16. Jahrhunderts
einlässt und die Geduld für eine verschlungene, märchenhafte Geschichte aus
dem Jahr 1591 aufbringt, findet in Pamuks Geschichte einigen Stoff zum
Nachdenken. Pamuks Stil und die üppige Schilderung der handwerklichen Details
haben mir sehr gut gefallen; mancher Leser wird sie eher als ausufernd
empfinden. Die Erzählung aus mehr als 12 Perspektiven wirkt anfangs
abschreckend. Doch es ist möglich, den Überblick über die Beziehungen der
Personen untereinander, ihre wirklichen Namen und die Suche nach dem Täter zu
behalten. Der starrsinnig am Gewohnten festhaltende Fein Efendi repräsentiert
die autoritären Strukturen seines Handwerks, aber auch eine Gesellschaft, die
zu Kritik und Veränderung nicht fähig ist und sich stattdessen mit
außenstehenden "ungläubigen" Feinden auseinandersetzt. Interessant
fand ich die Schilderung der Person Seküre, ihr Verhältnis zu ihrem Vater, dem
abwesenden Mann und ihren kleinen Söhnen. Seküre tritt in der Geschichte nach
5 Männern und 2 Gegenständen an 8. Stelle auf und beobachtet die Vorgänge
anfangs nur aus dem Verborgenen. Pamuks historischer Stoff bietet als
Frauenrollen die der Ehefrau, einer Hausiererin und einer Dienerin. Erst bei der
Totenfeier für den Efendi Fein werden weitere Frauen benötigt, damit die
Gäste beköstigt werden können.
Fazit
Pamuks symbolhafte, hintergründige Geschichte hat einige Längen; ihre Bilder
und Symbole bieten dem geduldigen Leser vielfältige Einsichten in das
schwierige Verhältnis zwischen der westlichen und der muslimischen Kultur.
Vorgeschlagen von Helga Buss
[Profil]
veröffentlicht am 12. Juni 2007 2007-06-12 09:58:30