Was ist vom Denken eines Philosophen zu halten, der gerade den preußischen
Staatssozialismus als Ethik eines jeden im Volke für Stabilität und Sicherheit
eines Staates und nicht das ausschließliche Ringen um Macht und Kompromisse
forderte? Was von einer Haltung, welche aus der fortschreitenden Erosion des
Vertrauens in alle Parteien eine grundlegende Kulturkritik hervorgehen läßt,
die das System "Alle für alle" entgegen dem marxistischen
Klassenantagonismus oder entgegen einseitiger Parteiendogmatik aus integraler
Tradition und Motivation heraus für wichtig erachtet? Spengler - der Philosoph
dieser Ideen - sieht die Theorie Marx’ als reines Klasseninteresse, das sich
nur auf den Gegensatz von reich und arm bezieht. Das Leben beinhaltet aber mehr
als jene materiellen Kategorien. Ihnen stellt Spengler z.B. zusammen mit dem
verstehenden Teil der deutschen Arbeiterschaft in Verbindung mit den besten
Trägern des altdeutschen Staatsgefühls eine "Demokratisierung im
preußischen Sinne, beide zusammengeschmiedet durch eine Einheit des
Pflichtgefühls, durch das Bewußtsein einer großen Aufgabe" entgegen. Er
schließt sein zweites Werk "Preußentum und Sozialismus" (1919)
deshalb mit folgendem Satz: "Wir sind Sozialisten. Wir wollen es nicht
umsonst gewesen sein." (Ebd., S. 103)
Nun, es gilt, neben dem Kulturphilosophen also auch den Politik-Denker Oswald
Spengler (1880-1936) neu zu reflektieren. Die Spengler-Rezeption der heutigen
Zeit hat eine Wende erfahren. Zahlreiche Schriften, die sich, wenn nicht gleich
apologetisch so doch sachlich-nüchtern mit der Theorie Spenglers
auseinandersetzen, sind in den vergangenen Jahren erschienen. Neben der
umfangreichen Dissertation von Frits Boterman (Oswald Spengler und sein
"Untergang des Abendlandes", 2000) und der kleinen Studie von Frank
Lisson (Oswald Spengler. Philosoph des Schicksals, 2005) ist zeitlich zwischen
beiden Büchern im Leipziger Universitätsverlag noch eine weitere Schrift des
Italieners und Spengler-Kenners Domenico Conte erschienen, der sich erfreulich
übersichtlich mit Oswald Spengler auseinandersetzt und dem Leser zurecht eine
"umsichtige Einführung" (7) verspricht.
Conte, als Italiener von heutiger deutscher Engstirnigkeit und verweigerter
Würdigung bei der Betrachtung eigener geistiger Traditionen jenseits des
"herrschaftsfreien" aber dennoch herrschenden Diskurs-Monopols eines
Habermas weit entfernt, stellt direkt zu Beginn seines gut leserlichen Buches
fest, daß man zum Zwecke der Wissenschaft und des freien Denkens endgültig von
der "an Naivität schwer zu schlagende[n] Behauptung, dass Oswald Spengler
den deutschen Nationalsozialismus herbeigeschrieben habe" (5), endgültig
Abstand nehmen sollte. Die Fronten des Autors, zugleich die Fronten einer neuen
Epoche der Spengler-Rezeption, sind damit gesetzt.
So ist es inzwischen auch als naiv einzustufen, sich ignorant gegenüber der
Idee einer tugendbezogenen und pflichtbewußten, d.h. schlichtweg auf das Ganze
des Staates und seiner Bürger bezogenen Konzeption von Politik zu zeigen, egal
welche Nachteile sie aus heutiger Sicht haben möge. Denn wieder herrscht in
Deutschland das Gefühl der Hoffnungslosigkeit, der Resignation und in gewissen
gesellschaftlichen Kreisen die fortschreitende Weigerung zur Übernahme
jeglicher Verantwortung und Dienstbereitschaft. Die Folgen dessen sind greifbar:
Politikverdrossenheit, Korruption als zunehmende Seele des Systems,
Verfassungsbruch, mangelhafte Selbstidentität, Ämterpatronage, Verschleierung
von Wahrheiten, Bürgerferne, politische Inszenierungen anstelle von ernsten
Sachthemen. Die Politik war für Spengler kein Spiel, zu dem sie heute aber
immer mehr degeneriert und damit zugleich den Bedarf an ernstzunehmenden,
sachlichen Menschen, die die Lage nüchtern überblicken, ansteigen läßt.
Conte, der bewußt herausstellt, warum und auf welchem Wege Spengler als
einsamer Autodidakt mit seinem Buch vom "Untergang des Abendlandes"
großen Anklang hatte und zudem den Inhalt des Buches in Kürze verständlich
macht (19-43), bietet deshalb auch ein Kapitel zur politischen Einordnung
Spenglers. Spengler als politischer Autor bedarf eines umfassenden
Verständnisses seiner Zeit, seiner politischen Ambitionen und vor allen Dingen
dafür, was den Menschen nach dem 1. Weltkrieg motivational am Herzen lag.
Schlichtweg ist dafür ein Sprung in die Mikrodimension menschlichen Fühlens
nötig, die von pseudoerhabener normativer Voreingenommenheit, die historische
Konfigurationen an Maßstäben mißt, die dem historischen Ereignis selbst nicht
zueigen sind, Abstand nimmt. Conte beschreitet merklich genau diesen Weg. So
kommt erfreulicherweise allein schon in der gezielten Wahl von Zitaten Spenglers
zum Ausdruck, daß der Autor den Philosophen verstanden hat, sich dem Phänomen
desselben gleichsam genähert hat und Teil des Phänomens ist - ohne ihm
verständnislos Irrationalismus, "Extremismus" oder Dilettantismus
vorzuwerfen.
Das wunderschöne Zitat aus dem "Untergang des Abendlandes" zur
Problematik der Rückkehr der menschlichen Einzelseele in die ruhende Allseele,
aus der die Kulturen anfänglich emporsteigen, ist beispielsweise von Seiten der
Vertreter philologischer Oberflächlichkeit sowohl sprachlich als auch
inhaltlich oft mißverstanden worden. Conte aber benutzt es in seiner Schrift
ganz bewußt und verdeutlicht damit, daß es Spengler ähnlich wie heute
zwischen propagiertem Wellness-Wahn, verweigertem Opfer und progressivem
Sinnverlust lediglich um die intuitive Gewißheit einer wohlgefühlten Ordnung
im Ganzen ging. Diese Ansicht, dargestellt und kombiniert mit einer Theorie von
der Morphologie der Weltgeschichte, ist eine Leistung. Sie liest sich so:
"Eine Pflanze ist nur eine Pflanze, ein Tier ist Pflanze und noch etwas
außerdem. Eine Herde, die sich zitternd vor einer Gefahr zusammendrängt, ein
Kind, das weinend seine Mutter umklammert, ein verzweifelter Mensch, der sich in
seinen Gott hineindrängen möchte, sie wollen alle aus dem Dasein in Freiheit
zurück in jenes verbundene, pflanzenhafte, aus dem sie zur Einsamkeit entlassen
sind." (UdA 557)
Durch diese bewußte Phänomenalität der Betrachtungsweise gelangt Conte dann
auch zu einer sachgerechten Beurteilung der "Konservativen
Revolution", zu deren geistigen Vertretern er Spengler seit Armin Mohlers
(1920-2003) gleichnamiger Schrift zählt. Und so ist es verzeihbar, wenn Conte
auf Seite 63 in der Fußnote 33 versehentlich auch "Hans Bühler" als
Vertreter der "Konservativen Revolution" benennt, wobei dem Kenner
klar ist, daß es sich eigentlich nur um den Schriftsteller und Philosophen Hans
Blüher (1888-1955) handeln kann, der sich mit der Homoerotik befaßte und in
seinem Spätwerk "Die Achse der Natur" (1949) auf vielen Seiten den
modernen Subjektivismus philosophisch zu überwinden trachtete. Erstaunlich ist,
daß Blühers Arbeiten früherer Zeit von Köpfen wie Gottfried Benn, Thomas
Mann, Rainer Maria Rilke oder Franz Werfel zum Teil enthusiastisch rezipiert
wurden. Das Buch Armin Mohlers "Die Konservative Revolution in Deutschland
1918-1933. Ein Handbuch" (2005) ist - bearbeitet von Karlheinz Weißmann -
inzwischen neu erschienen und betont zum Ziel dieser geistigen deutschen
Strömung in seinem Vorwort auch im Sinne des Politik-Philosophen Spengler:
"Was heute vielleicht noch stärker als in der unmittelbaren Nachkriegszeit
erkennbar wird, ist das Moment der Einheit aller ihr zugerechneten Bestrebungen,
die Deutschen bei sich selbst zu halten, zu sich selbst zurückzuführen oder zu
sich selbst zu machen." (Ebd., S. XXV)
Spengler war und ist immer noch Teil dieser Einheit, die es sich zum Ziel
machte, eine politische, philosophische und gleichsam auch spirituelle Dimension
des deutschen Denkens für die Praxis fruchtbar zu machen. Werden beispielsweise
die Ergebnisse der marxistischen Staatsanalyse unmittelbar zu Momenten des
ideologischen Klassenkampfes und der proletarischen Revolution als Zeichen der
menschlichen Emanzipation, so entwirft Spengler eine Typologie der
abendländischen Revolutionen. Er benutzt diese Typologie, um zu zeigen, daß
die Deutschen neben England und Frankreich einen denkerischen Sonderweg
darstellen. Das bekräftigt auch sein Modell des preußischen
Staatssozialismus.
Bedeutend und erwähnenswert ist in der Schrift Contes wiederum ihr umfassender
Exkurs sowohl zu den geistigen Vordenkern Spenglers (44ff.) als auch die
Leistung des Autors, eine bisher kaum so gebotene übersichtliche Geschichte der
Rezeption der Spengler-Schriften durch andere Wissenschaftler vorgenommen zu
haben. Der Autor füllt damit eine Lücke und absolviert diese Füllung anhand
von drei Etappen: Beginnend mit dem Spengler-Streit in den 20er Jahren verläuft
der Bogen seiner Betrachtung zu Büchern über und nicht von Spengler weiter
hinein in die Zeit des Nationalsozialismus und in die frühe Bundesrepublik. Und
so trifft der Leser auf Namen aus Wissenschaft, Politik, Theologie und
Philologie, deren Meinung zu Spengler aus heutiger Sicht sehr interessant zu
wissen ist: Thomas Mann, Alfred Rosenberg. Theodor Adorno, George Lukács,
Arnold Toynbee.
Auf diese Weise erschließen sich dem Leser Gemeinsamkeiten und Unterschiede,
Ablehnung und Zuneigung zu Spengler, was vor allem bei Toynbee sehr interessant
ist, wird doch beiden nachgesagt, sich mit dem Untergang von Kulturen befaßt zu
haben. Der Unterschied zwischen beiden jedoch ist existent und wurde einst auch
in einer Spengler-Studie von 1965 dargestellt: "Bei Toynbee ist eine solche
Gefahr des endgültigen Aussterbens jedes Kulturgeschehens auf Erden gerade
durch die große Anzahl der von ihm beschriebenen Zivilisationen, (...), als so
gut wie ausgeschlossen zu betrachten. Denn sie sind keinem Gesetz des
notwendigen Untergangs unterworfen (...). Gerade weil ihm aber die Kategorie der
Herausforderung keine aufbauende historische Komponente bedeutet, neigt Spengler
dazu, den Vormarsch der Zerstörung und des Sieges über die weiße Rasse, über
das ohnmächtig gewordene Abendland als unvermeidlich anzusehen." (Georgi
Schischkoff: Spengler und Toynbee, in: Spengler-Studien. Festgabe für Manfred
Schröter zum 85 Geburtstag, 1965, S. 73/74)
Es gibt also bei und über Spengler noch viel Wissenswertes zu entdecken. Contes
Buch kann diesbezüglich als schätzenswerte Einführung dienen, die genau
aufzeigt, in welche Richtung es sich lohnt, weiterzulesen. Sie bietet jenseits
der oft in strengen Grenzen verharrenden Schulphilosophie einen
leserfreundlichen Pfad dazu an, die eigentliche und umfassende Philosophie, das
eigentliche Denken über Politik, Kultur, Mensch und Erde neu in Angriff zu
nehmen.
Fazit
Innerhalb der Sekundärliteratur zum Phänomen Oswald Spengler kommt diesem Buch
eine bedeutende Rolle zu.
Vorgeschlagen von Daniel Bigalke
[Profil]
veröffentlicht am 09. Juni 2007 2007-06-09 18:34:20