"Vielleicht haben wir uns geirrt, vielleicht sind Kinder kompetent"
schrieb die schwedische Psychologin Margaretha Brodén. Eltern, die überzeugt
davon sind, dass bereits ein kleines Kind ein ganz normaler Mensch ist und nicht
erst durch die Einwirkung von Erwachsenen dazu wird, finden die Bestätigung in
der Praxis: Kinder wissen, was und wie viel sie essen möchten, ob sie müde
sind und wen sie gern mögen. Die Vorstellung vom kompetenten Kind ist für Juul
jedoch keine bequeme Ausrede dafür, Kinder machen zu lassen, was sie wollen. Er
erklärt anschaulich, dass kleine Kinder noch nicht unterscheiden können
zwischen dem, wozu sie Lust haben, und dem, was für sie geeignet ist. Auch für
kompetente Kinder müssen Erwachsene Verantwortung und Fürsorge übernehmen.
Jesper Juul ist selbst in einer Zeit aufgewachsen, als Kinder von ihren Eltern
für das Leben in Öffentlichkeit und Familie "dressiert" wurden und
man Konflikte nach Möglichkeit verleugnete. Gehorcht werden musste dem, der die
Macht hatte und durchsetzte. (Der Autor unterscheidet exakt zwischen Respekt und
Angst, sowie zwischen Respekt und Höflichkeit.) Juul ist der Meinung, dass
Gehorsam Freude an der Verantwortung ausschließe. Die Machtstrukturen der 50er
Jahre hält er als Rollenmodell für ungeeignet; denn sie blockierten das
Heranreifen der Kinder. Zu Juuls Idealvorstellung von Familienleben gehören
Fürsorge, Verantwortung, Gleichwertigkeit und Integrität. Wer sich mit der
eigenen Rolle als Erzieher selbstkritisch auseinandersetzt, kann in Juuls
"kompetentem Kind" Anregungen für einen zeitgemäßen Erziehungsstil
finden.
Jesper Juul sieht für jede Familie die Chance, dass Eltern und Kinder sich
gemeinsam weiter entwickeln können. Er will die Polarisierung in richtige und
falsche Menschen oder Einstellungen auflösen und seine Leser dafür
sensibilisieren, genau hinzusehen, wen sie vor sich haben. Aufmerksamkeit
verdiene besonders die Art, wie Eltern mit ihren Kindern sprechen. Ein
wertschätzender Umgang ist seiner Ansicht nach erst möglich, wenn Eltern die
oft reflexhaft gesprochenen geflügelten Worte ihrer eigenen Kindheit erkennen
und ablegen. Vom Erklärzwang und den endlosen Familien-Diskussionen der 70er
Jahre hält er wenig und fordert statt gleicher Rechte für Kinder gleiche
Würde für alle Familienmitglieder. Juul ist überzeugt, dass jedes Kind von
sich aus mit den Eltern kooperieren möchte. Übermäßige kindliche
Rücksichtnahme auf die Bedürfnisse der Eltern und übertriebenen Gehorsam
wertet er als Warnsignal dafür, dass Kinder mehr Verantwortung in der Familie
tragen, als für ihr Alter angemessen ist. Juul bringt seine Erfahrungen als
Vater eines heranwachsendes Sohnes ein und vermittelt praxisnah, wie Eltern
Pubertierender aus dem Teufelskreis des "Hotel Mama" herauskommen
können. Der Autor karikiert, wie der "elterliche Anrufbeantworter"
regelmäßig Ermahnungen abspielt, die an jugendlichen Ohren jedoch stets
vorbeirauschen. Juuls Beispiele erscheinen zunächst krass; auf den zweiten
Blick erweisen sie sich als sehr realistisch. Sein Buch könnte ein Beitrag dazu
sein, dass in der Zukunft zur Allgemeinbildung auch pädagogische Kompetenzen
gehören werden.
Fazit
"Das kompetente Kind" spricht Leser aller Altersgruppen an. Mir hat
der sorgfältige Umgang des Autors mit Sprache viele nützliche Anregungen
gegeben. Wer der Elternrolle noch unentschieden gegenübersteht, wer über die
eigene Kindheit, kleine Kinder, Heranwachsende oder die Enkel nachdenkt, findet
hier Anregungen für die Entwicklung eines eigenen Erziehungsstils.
Vorgeschlagen von Helga Buss
[Profil]
veröffentlicht am 25. Mai 2007 2007-05-25 19:15:42