Als die junge Meteorologin Freia Sandmann beim Halt des ICE im Hannoverschen
Hauptbahnhof zufällig aus dem Fenster sieht, steigt ihre Mutter Renate gerade
in den Zug nach Minden. Die beiden Frauen hatten über ihre geplanten Reisen
gesprochen, doch nicht realisiert, dass sich ihre Wege kreuzen würden.
Missverständnisse und halb ausgesprochene Tatsachen hatten Freias Kindheit
geprägt. Zusammen mit ihrem Zwillingsbruder Paul konnte sie sich außerhalb des
Hauses unbeschwert im Garten und in der Natur austoben. Doch bei der Rückkehr
an den Familientisch beherrschte das komplizierte Verhältnis zwischen ihrem
kriegsversehrten Großvater Max, genannt Mäxchen, und seiner Frau Jo die
Gespräche. Für Freia, die auf den Namen Eva-Maria getauft ist, sind
Kriegversehrte so selbstverständlich, dass sie annimmt, auch Engel würden an
Krücken gehen. Die Kinder interessieren sich brennend dafür, wie genau der
Großvater sein Bein im Krieg verloren hat. Max und Jo reden viel, wiederholen
sich endlos, doch sie sagen wenig. Freia überlistet ihre Großmutter, indem sie
sie beim täglichen Zöpfeflechten ausfragt - während Jo sich unbeobachtet
fühlt, plaudert sie Informationen aus, die sie sonst verschweigt.
Das komplizierte symbiotische Verhältnis der Zwillinge zueinander erschwert
während der Pubertät ihr Erwachsenwerden. Mit 17 Jahren verliebt Freia sich in
Wieland. Doch sie geht zunächst auf Distanz, indem sie auf einer Reise nach
Warschau besessen nach Spuren ihres Onkels Kazimierz sucht, dem Cousin der
Mutter. Unterwegs auf der Ost-West-Achse Warschau-Berlin und
Berlin-Hannover-Minden trifft sich Freias Familie nach Großmutter Jos Tod bei
der Auflösung ihres Haushalts. Freia ist inzwischen über 30 und erwartet ihr
erstes Kind. Erst jetzt findet sie Zugang zu den Erinnerungen ihrer Eltern und
Großeltern an Flucht, Vertreibung und an nie ausgesprochene Schuldgefühle.
Fazit
Aus der Perspektive der Kinder schildert Tanja Dückers treffend das von vielen
Zeitzeugen bekannte Ausweichen in biographische Erinnerungen, wenn Kinder und
Enkel Genaueres aus der Zeit des Nationalsozialismus wissen möchten. Warum die
erwachsene Freia noch in den letzten Lebenstagen ihrer Großmutter vermeintliche
Fakten abringen will, erschließt sich nur schwer. Anders als in ihrer Kindheit
könnte sie selbst inzwischen die immer wieder gehörten Erinnerungen den
historischen Fakten zuordnen.
Mit einigen Längen portraitiert die Autorin detailreich Freias
temperamentvollen Familienclan beim Ordnen der eigenen Erinnerungen und
Erinnerungsstücke.
Vorgeschlagen von Helga Buss
[Profil]
veröffentlicht am 31. Dezember 2006 2006-12-31 18:55:16