Bei jedem Erscheinen einer neuen Hitler-Biographie ist mittlerweile kritisch
nach dem Erkenntnisgewinn eines solchen Vorhabens zu fragen. Dies gilt auch für
die vorliegende Biographie von Rafael Seligman, der im Sinne der
intentionalistischen Schule der Geschichtswissenschaft argumentiert, d.h. Hitler
als einen Mann begreift, der ein konkretes Programm - Weltherrschaft, Lebensraum
nach Osten und die Vernichtung der Juden - konsequent durchdacht und
durchgesetzt habe. Insofern steht Seligmann in der Tradition der Werke Eberhard
Jäckls: "Hitlers Weltanschauung" und der bis heute besten
Hitler-Biographie, Sebastian Haffners: "Anmerkungen zu Hitler", die
auch Seligmann selbst als anregend empfindet.
Doch ohne die Lektüre der klassischen Hitler-Biographien von Bullock bis
Kershaw (letztere wird von Seligmann besonders wegen ihrer Ausrichtung an der
funktionalistischen Schule der Geschichtswissenschaft, also der Auffassung,
Hitler habe lediglich gesellschaftliche Strömungen opportunistisch aufgegriffen
und ihr Anspruch, einen Kompromiss zwischen Intentionalismus und Funktionalismus
zu erreichen, sei nicht erreicht worden) kann man auch bei der Lektüre der
vorliegenden Biographie nicht verstehen, wie Hitler möglich war. Insbesondere
seine Hauptthese, Hitler und die Deutschen habe die Angst vor der Moderne
geeint, ist zwar auf der einen Seite zutreffend. Andererseits haben gerade
Haffner und andere nachgewiesen, dass während der Herrschaft des
Nationalsozialismus - sicherlich wider Willen der Akteure, im Ergebnis aber
dennoch eine Modernisierung, nämlich eine Beseitigung der Klassenschranken)
stattgefunden habe.
Eine Biographie, die den Anspruch erhebt, die Wechselwirkung zwischen den
Deutschen und Hitler aufzuzeigen, müsste stärker die deutschen politischen
Traditionen, etwa des Obrigkeitsstaates und der fehlgeschlagenen
Parlamentarisierung im 19. Jahrhundert beleuchten. Diese Entwicklungslinien -
bei Fest eindrucksvoll beleuchtet - fehlen hier vollkommen. Und Wippermann hat
festgestellt, dass faschistische Bewegungen überall in Europa - vor allem in
Nationen, die zu den Verlierern des ersten Weltkrieges gehörten oder besonders
starke soziale Spannungen auszuhalten hatten, an die Macht kamen (Wippermann:
Faschistische Bewegungen in Europa, 1982). Hitler ist also nicht nur durch eine
angeblich besondere Affinität zwischen ihm, dem Österreicher, und den
Deutschen erklärbar, die er ja auch - wie Haffner eindrucksvoll bilanziert hat
- spätestens mit dem sogenannten "Nero"-Befehl und der
Ardennen-Offensive verraten hat.
Insgesamt muss daher leider bilanziert werden, dass Seligmanns Thesen zum einen
nicht neu sind und zum anderen auch seinen Anspruch, "entscheidende Fragen
der Wirkung Hitlers", die bislang noch nicht gestellt oder nur am Rande
behandelt worden seien, zu stellen, nicht erfüllt. Sein Vorwurf: "Die
anschwellende Publikationslawine zur Person Hitler steht in einem
bemerkenswerten Gegensatz zum Erkenntnisgewinn" ist zwar zutreffend, wird
jedoch auch durch seine Biographie nicht behoben.
Fazit
Also: nach wie vor scheint mir Haffners "Anmerkungen zu Hitler" bis
heute die beste Biographie von Hitler zu sein. Auch die Biographien von
Pätzold/Weißbecker, die bislang am besten die gesellschaftliche Wechselwirkung
von Hitler und den Deutschen untersucht, ist hervorragend. Was die deutsche
Politik- und Ideengeschichte angeht, sind die Bücher von Bracher: "Die
deutsche Diktatur" und die erwähnte Hitler-Biographie von Joachim Fest
unübertroffen. Sie sind - was den Erkenntnisgewinn angeht - eindeutig besser
als das vorliegende Werk, welches doch eher einführenden Charakter hat, aber
auch hier nicht an Haffners Analyse des Phänomens Hitler herankommt.
Vorgeschlagen von Bernhard Nowak
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veröffentlicht am 26. November 2006 2006-11-26 19:44:18