Die kleine Seyran liebte die Geschichten, die in ihrer Großfamilie erzählt
wurden. Es gab viel zu erzählen; denn ihr Großvater war mit drei Frauen
verheiratet. Doch immer wenn die Sprache auf private und gesellschaftliche
Konflikte kam, wenn die Worte Kurde oder Armenier fielen, wurden die Erwachsenen
sonderbar schweigsam. Seyran - ihr Vorname bedeutet Feuer - dachte schon als
kleines Mädchen logisch und liebte die Gerechtigkeit. Nachdem sie als
6-jährige zu ihren berufstätigen Eltern nach Berlin gezogen war, kam es wegen
ihrer Gerechtigkeitsliebe bald zu Konflikten. Eine Diskussion darüber, wie sich
Ehemann und Söhne einer ganztags berufstätigen türkischen Frau an der
Hausarbeit zu beteiligen haben, war nicht vorgesehen. Die aufmüpfige kleine
Tochter lernt schnell Deutsch, bringt gute Schulleistungen, wird zur
Schülersprecherin gewählt und ist als Übersetzerin und Behördengängerin
für die ganze Familie tätig.
Schon mit 12 Jahren beschließt Seyran Ates, dass sie später Jura studieren
wird. Als Schülerin einer Berliner Gesamtschule wird die Autorin tagsüber zur
Selbständigkeit und Kritikfähigkeit erzogen, nach Schulschluss wird sie vom
Familienclan minutiös kontrolliert. Ein bizarres Doppelleben, wie sie findet.
Noch bevor sie 18 Jahre alt ist, überlegt sie zunächst, in eine Ehe zu
flüchten, um nur von zu Hause fort zu kommen und zieht schließlich aus der
elterlichen Wohnung aus. Ihr Kontakt als Klientin mit dem Jugendamt und
verschiedenen Beratungsstellen öffnet ihr die Augen dafür, wessen Interessen
türkisch sprechende Mitarbeiter in diesen Einrichtungen tatsächlich vertreten.
Seit Beginn ihres Jura-Studiums 1983 arbeitete sie in einer Beratungsstelle für
türkische Frauen. An diesem Arbeitsplatz wird ein politisch motivierter
Anschlag auf sie und ihre Kollegin verübt, die Kollegin wird getötet, Ates
schwer verletzt. Der Täter wird als Folge von Ermittlungspannen frei
gesprochen. Die Ermittlungsbehörden suchen nur Hinweise auf eine Beziehungstat
und ignorieren Aussagen, die auf andere Gründe hinweisen. Nach jahrelanger
Rehabilitationszeit kann Ates ihr Studium abschließen und macht sich als
Anwältin und Strafverteidigerin selbständig.
Wie viele ihrer Generation litt die Autorin heftig darunter, dass ihre Eltern in
Deutschland arbeiteten und die Kinder währenddessen bei Verwandten zurück
ließen. Man sprach nicht mit ihnen darüber, wann ihre Eltern wieder aus
Deutschland zurück kommen würden. Seyran Ates erlebte in ihrer Kindheit und
als erwachsene Strafverteidigerin muslimische Männer als rücksichtslos und
gewaltbereit.
Fazit
Seyran Ates beschreibt den Lebensweg ihrer Eltern sachlich und ohne Bitterkeit.
Der Einblick, den sie in das Leben der ersten Generation ausländischer Arbeiter
gibt, trägt erheblich zum gegenseitigen Verständnis der Kulturen bei. Ates hat
zeitweilig ein schillerndes Leben innerhalb der Berliner linken, Frauen- und
Hausbesetzer-Szene geführt. Mit kritischem Blick für die
Widersprüchlichkeiten dieser Szenen entlarvt sie die Folgen so genannter
repressiver Multi-Kulti-Toleranz für das Zusammenleben der Kulturen in
Deutschland. Ates Rückzug aus dem Berufsleben im September 2006 lenkt den Blick
noch einmal auf ihre lesenswerte Biografie, die zuerst 2003 erschien.
Vorgeschlagen von Helga Buss
[Profil]
veröffentlicht am 13. November 2006 2006-11-13 08:34:08