Erinnerungen von Politikern sind - wie Wilhelm von Sternburg zu recht in der
Wochenzeitung "Die Zeit" dargestellt hat - zwiespältig. Sie sind
häufig Rechtfertigungsliteratur oder Anklageliteratur.
Ersteres trifft zwar durchaus auch auf die Erinnerungen von Gerhard Schröder
zu. Im Gegensatz zu den Erinnerungen, die sein Vorgänger Helmut Kohl
hinterlassen hat, klagt er jedoch nicht an, sondern vertritt engagiert seine
innen- und außenpolitischen Überzeugungen, ohne eigene Fehlentscheidungen oder
-einschätzungen zu verschweigen.
Der persönliche Werdegang ist relativ kurz gehalten; der Schwerpunkt der - mit
knapp 545 Seiten - eher knapp gehaltenen Erinnerungen liegt auf den
Regierungsjahren. Innenpolitisch rechtfertigt Schröder seine Reformpolitik,
schildert die Entstehung der "Agenda 2010" und die Probleme bei ihrer
Umsetzung.
Außenpolitisch plädiert er für ein enges Verhältnis zu Frankreich und
Rußland, wobei er ein äußerst warmherziges - wenn auch mir zu unkritisch
gehaltenes - Portrait des russischen Präsidenten Putin, aber auch des
französischen Staatspräsidenten Chirac entwirft. Zu beiden entwickelte er
während der Ereignisse um den Irak-Krieg ein durchaus enges Verhältnis.
Mehr als die innenpolitischen Passagen, die weitgehend bekannt sein dürften,
haben mich die außenpolitischen Kapitel des Buches gereizt; so fand ich es
überraschend, wie sehr sich Schröder gegen weltweiten Protektionismus und für
Freihandel zwischen den Nationen aussprach. Er fordert ein weltpolitisch starkes
Europa - vor allem als Gegengewicht zu den USA. Von deren Präsidenten Bush ist
er persönlich enttäuscht, wobei er vor allem dessen religiösen Rigorismus
für seine festgefahrene Weltanschauung verantwortlich macht. Offensichtlich
kränkte es Schröder, dass insbesondere die heutige Außenministerin Rice und
der jetzige Sicherheitsberater Bushs, Hadley, seine außenpolitischen
Vorstellungen zur friedlichen und nicht-militärischen Beilegung der Krise im
Irak zurückgewiesen hat. In Anlehnung an Richard Clarkes Buch "Against al
enemies" beschreibt er die vielfältigen Gründe der Bush-Administration,
den Irak-Krieg zu führen. Diese Krise sei - dies kann man ja jetzt sehen -
nicht bewältigt. Doch auch die anderen außenpolitischen Krisen - Kosovo,
Afghanistan - werden beleuchet, wobei mir neu war, dass es insbesondere Erhard
Eppler gewesen ist, der mit seinen abgewogenen und klugen Beiträgen den
SPD-Sonderparteitag 1999 dazu brachte, den Kriegseinsatz im Kosovo zu
billigen.
Warmherzig spricht er über Kollegen und Freunde, wobei eine gewisse Distanz zur
allzu fiskalisch betriebenen Politik von dem von ihn nach Bonn bzw. Berlin
geholten Finanzministers Hans Eichel deutlich wird; wesentlich wärmer spricht
er über andere politische Weggefährten, wie Joschka Fischer, Otto Schily,
Wolfgang Clement und insbesondere Franz Müntefering, mit dem er laut eigenen
Worten das "engste politische Verhältnis entwickelte", was er je zu
einem Menschen entwickeln konnte. Mit ihm zusammen "heckte" er den
Neuwahl-Plan 2005 aus, dem Bundespräsident und Verfassungsgericht zustimmen
mußten. Warmherzig auch die Erinnerung an Alt-Präsident Johannes Rau, dem er
mit großem Respekt begegnet und den er zu den "großen
Bundespräsidenten" zählt, wenn er auch Auseinandersetzungen mit ihm - Rau
lehnte militärische Einsätze nach dem 11. September 2001 ab - nicht
verschweigt.
In wohltuendem Gegensatz zu Helmut Kohl macht er politisch Andersdenkende nicht
"fertig"; möglicherweise hat hier sein Berater, Ex-Regierungssprecher
Heye, mitgewirkt, ein abgewogenes Bild zu entwickeln; so würdigt er
beispielsweise die Begabungen Lafontaines und versucht, dessen Persönlichkeit
gerecht zu werden, wenn er auch die Tiefe des persönlichen Bruches nicht
verschweigt. Verbitterung klingt lediglich bei der Beschreibung der Politik
einiger Gewerkschaftsführer, etwa Verdi-Chef Bsirske, gegenüber seiner Politik
an; gerechterweise muss allerdings gesagt werden, dass mangelnde
Differenziertheit der Argumente auch auf der "anderen" Seite vorhanden
war; etwa wenn Schröder von einigen Gewerkschaftsfunktionären als
"asozial" gebranntmarkt wurde, weil sie seine
"Agenda"-Politik verhindern wollten.
Im Gegensatz zu einigen Presseartikeln, die moniert haben, diese Memoiren
brächten "nichts Neues", muss ich doch sagen, dass sehr konkret auf
innen- und außenpolitische Entscheidungen während Schröders Regierungszeit
eingegangen wird, ohne dass sich der Autor zu sehr in den Mittelpunkt dieser
Ereignisse stellt. Er lässt auch seine Mitarbeiter, sein Team,
"gelten" und würdigt es.
Fazit
Insgesamt sehr informative Memoiren, die sich meines Erachtens wohltuend von der
teilweise penetranten Rechtfertigungs- bzw. Anklageliteratur anderer politischer
Erinnerungen von Spitzenpolitikern unterscheiden. Daher - egal wie man nun im
Einzelnen zu Schröder und seiner Politik stehen mag - durchaus lesenswert, um
sich über die Regierungszeit von rot-grün zwischen 1998 bis 2005 aus der Sicht
ihrer wichtigsten Akteure ein Bild zu machen.
Vorgeschlagen von Bernhard Nowak
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veröffentlicht am 28. Oktober 2006 2006-10-28 13:53:44