Schwarz und Weiß
Wenn eine weiße Frau mit einem schwarzen Mann ein Kind zeugt und deren
weißhäutige Tochter wiederum mit einem weißen Mann ein Kind bekommt, kann
dieses Kind der zweiten Generation durchaus dunkelhäutig sein. Das klingt
kompliziert! Ist es auch.
Noch schwieriger wird es, wenn diese Geschichte zwischen den Welten angesiedelt
ist.
Im Jahre 1899 reist Arabella als geworbene Braut in die deutsche Kolonie
Südwest-Afrika, das heutige Namibia. Die junge Frau heiratet einen Farmer und
befindet sich plötzlich in einer Welt, in der Grausamkeit und Gewalt regieren.
Knapp fünf Jahre später erheben sich die Hereros gegen die deutsche
Herrschaft. Im August 1904 kommt es am Waterberg zur Entscheidungsschlacht.
80.000 Hereros gelingt die Flucht aus dem deutschen Kessel. Sie fliehen ins
wasserlose Wüstengebiet der Omaheke. Aber wenig später wird der Aufstand
blutig niedergeschlagen und 65.000 Hereros sterben.
Arabellas brutaler Ehemann stirbt bei dem Aufstand, sie selbst wird von den
Hereros verschleppt. In der Gefangenschaft kommt sie Assa, einem Führer der
Aufständischen, näher und findet endlich das, was sie ein Leben lang gesucht
hat.
Als Arabella wieder bei den Deutschen ist, weiß sie, dass sie schwanger ist. Um
Zeit zu gewinnen, lässt sie sich auf eine Beziehung mit dem Offizier Paul von
Kavea ein, der sie von ganzem Herzen liebt. Beide hegen berechtigte Zweifel, ob
das Kind wirklich von Paul ist.
Der Offizier erhält den Rat, die Schwangerschaft abzuwarten: "Wenn das
Kind weiß ist, ist es deins, ist es schwarz, wirfst du es in den Atlantik und
die Frau gleich hinterher."
Aber das Neugeborene ist weiß. Und auf dieser Tochter, die den Namen Nele
erhält, wird eine dünkelhafte Familientradition gegründet. Nele von Kavea ist
im Gegensatz zu ihrer Mutter Arabella eine konservative, innerlich starre
Person.
Zwei Generationen später steht Nele, die inzwischen Senatorin in Hamburg ist,
am Wochenbett ihrer Tochter Kriemhild. Als sie ihre neugeborene, dunkelhäutige
Enkelin sieht, bricht ihre konventionelles, latent rassistisches Weltbild
zusammen: Ihre einzige Tochter hat sich mit einem Farbigen eingelassen! Um die
Schande von ihrer großbürgerlichen Familie abzuwenden, setzt sie ihre ganze
Macht ein, um das Kind für tot erklären zu lassen. Ihre Tochter Kriemhild
glaubt ihr, bezahlt diesen Verlust aber mit dem Wahnsinn.
Die neugeborene Tochter Cosima wird in ein Waisenheim abgeschoben.
Als Erwachsene gründet sie selbst eine Familie und bekommt ebenfalls eine
Tochter. Dreißig Jahre später tritt ihre Großmutter Nele unverhofft in ihr
Leben, um der schwarzen Enkelin die Familienfarm in Afrika zu überschreiben.
Die familienlos aufgewachsene Cosima möchte mit ihrer Großmutter im Grunde
nichts zu tun haben, dennoch nimmt sie das Angebot widerstrebend an. Sie
beschließt, die Farm sofort weiter zu verschenken. Cosima reist nach Namibia
und trifft dort eine weitere Schlüsselperson, die das Geheimnis der wahren
Familienverhältnisse kennt. Auch Nele fliegt nach Namibia und vor dem
Familienbesitzt kommt es zur Stunde der Wahrheit und zum finalen
Befreiungsschlag.
Nele erkennt das Lügengebäude auf dem ihr Leben errichtet ist - und sie muss
erfahren, dass in Wirklichkeit sie die Tochter eines Farbigen ist.
Diese Familiengeschichte erzählt von vier Frauen aus vier verschiedenen
Generationen und umfasst damit einen Zeitraum von hundert Jahren. Dem
Autorenpaar gelingt der Sprung zwischen den Zeiten und den Welten. Die
Geschichten werden nicht fortlaufend, sondern sozusagen nach ihrer Gewichtung
erzählt.
Kleine, logisch schwer nachvollziehbare Details wie " er kniete, das offene
Hemd nur von seinen Hosenträger gehalten, neben einem Funkgerät," sind
entschuldbar, wären aber besser entfernt worden. Auch die Geschichte der
dunkelhäutigen Eva, die wegen ihrer Schwangerschaft von den Hereros
dahingemetztelt wird, erschließt sich dem Leser zeitlich nur schwer. Woher
wussten ihre Stammesgenossen so schnell von ihrer Vergewaltigung durch einen
Weißen?
Wie auch immer: Grundsätzlich handelt es sich um ein spannenden Roman, der ein
wichtiges Stück Zeitgeschichte ins Bewusstsein zurückruft.
Die beiden circa fünfundreißigjährigen Autoren Andrea Paluch und Robert
Habeck bilden eine eher selten anzutreffende Lebens- und Arbeitsgemeinschaft.
Sie studierten Englische Literatur und arbeiten inzwischen als freie Autoren und
literarische Übersetzer. Gemeinsam mit ihren vier Söhnen leben sie Nahe der
dänischen Grenze. Im Jahre 2001 erschien ihr erster Roman "Hauke Haiens
Tod".
Fazit
Wenn auch streckenweise zu kompliziert verknüpft, so ist die Idee von Schuld,
Sühne und falschem Dünkel doch geglückt. Schade ist, dass viele Metaphern
nicht so recht sitzen wollen. "Die Seele, die vom Reisestaub matt
ist", "der Nebel, der durch die Astlöcher in den Paneelen quoll"
oder "seine Vorsätze zergingen, als ständen sie draußen am Himmel"
bringen eine etwas bemühte Poesie in den Grundtext.
Vorgeschlagen von Heide John
[Profil]
veröffentlicht am 15. Oktober 2006 2006-10-15 17:27:27