Schon die ersten Sätze des Romans entführen in eine andere - längst
vergangene - Welt: "In einem der besseren Viertel der Stadt, in einer
Straße nahe Amalienborg, residieren Herr und Frau Obergerichtsrat Herlov hinter
vier breiten Fensterfronten im zweiten Stock."
Im März 1933 entdeckt das Dienstmädchen von einer dieser Fensterscheiben aus
die alte Dame im Haus gegenüber. Starr und unbeweglich sitzt sie in ihrem
Ohrensessel am Erkerfenster - sie ist tot, nur noch "ein Kadaver, ein Aas,
ein Ding... eine vertrocknete, verwelkte Hülle ohne Inhalt, eine Schale, die so
dünn und zerbrechlich wirkt, dass sie bei der geringsten Berührung zerbrechen
könnte."
Dann führt die Autorin ihre Leser zurück ins Jahr 1875, nach Kopenhagen,
mitten ins Leben der damals noch jungen Frederikke Leuenbech. Sie ist dem jungen
Theologiestudenten Christian Holm versprochen, einem biederen Burschen, der
keine positiven Gefühle in ihr zu wecken vermag. Ganz im Gegenteil: Als er ihr
eines Abends "nachdem er sich mit dem Jahrgangswein ihres Vaters Mut
angetrunken hatte" die Zunge in den Mund steckt, empfindet sie - bei diesem
allerersten Kuss ihres Lebens - nichts als Abscheu. "Es war, als hätte er
ihr den Mund mit Waldschnecken vollgestopft."
Dennoch wäre sie ihrer Bestimmung gefolgt, hätte Holm geheiratet und ein
bescheidenes, zurückgezogenes, vielleicht sogar zufriedenes Leben als
Pfarrersfrau geführt. Aber das Schicksal begegnet ihr in Form des umschwärmten
Arztes Frederik Faber und gibt ihrem Leben ein völlig andere Richtung.
Der charismatische Faber bewegt sich in anderen Kreisen als die Leuenbechs und
Holms, er ist von Bohemiens, Künstlern, Aktivisten und Schwärmern umgeben, die
über Gott und die Welt diskutieren und in Frage stellten. Faber und sein
Freundeskreis lehnen gesellschaftliche Konventionen ab, man verfolgt individuell
unterschiedliche, sinnstiftende Ziele und tut Dinge, die den Vorstellungen des
bürgerlichen Zeitalters massiv zuwiderlaufen. Frederikke ist fasziniert und
manchmal zugleich abgestoßen, aber sie erkennt durch die Treffen mit diesen
jungen Leuten, dass sie keinesfalls an der Seite des ungeliebten, zukünftigen
Pfarrers leben will. Als sie ihre Verlobung löst, kommt es zu einem Skandal,
dem sie sich trotzig entgegenstellt. Wenig später hat sie das Gefühl, genau
das Richtige getan zu haben, denn Frederik bietet ihr die Ehe an, verspricht ihr
finanzielle Unabhängigkeit und größtmögliche persönliche Freiheit.
Frederikke ist überglücklich und fest davon überzeugt, dass sich ihr Leben an
der Seite des Arztes, den sie bewundert und aus tiefstem Herzen liebt, zum
Positiven wenden wird. Aber schon in der Hochzeitsnacht merkt sie, dass ihr
Gatte unter einer Ehe etwas völlig anderes versteht als sie.
Frederikke scheitert an ihrer Liebe, sie scheitert daran, dass sie ihrem Leben
eine andere Richtung geben wollte. Das Grundthema des Schicksals und der
Einflussnahme auf die individuelle Bestimmung, ist der philosophisch
unterfütterte, rote Faden des Romans. Erst gegen Ende ihres Lebens wird
Frederikke erkennen, dass jeder Mensch selbst für sein Lebensglück
verantwortlich ist.
Jette Kaarbol hat einen wunderbaren Roman in der Tradition der bedeutenden
skandinavischen Erzähler des 19. Jahrhunderts geschrieben, der vor allem durch
zwei überzeugende Protagonisten besticht: Frederik und Frederikke sind die
beiden Symbolfiguren, deren Ziele, Wünsche, Lebenseinstellung und
Lebensgestaltung differieren. Beide sind glaubwürdige Stellvertreter einer
ganzen Epoche.
Jette Kaarbols Sprache entwickelt einen Sog, dem man sich nur schwer entziehen
kann, sie setzt Metaphern, die den Leser oft innehalten lassen, sie schafft es,
atmosphärische dichte Bilder zu erzeugen, wie beispielsweise bei Frederikkes
einsamer Beerdigung, wo "das scharrende Geräusch (der Schaufel) im Jammern
des Windes ertrinkt". Nicht jedes Bild sitzt: "In der gleichen Sekunde
zerbröckelte Christians Gesicht wie ein Zwieback über einer Kaltschale",
aber dieser Umstand ist zu vernachlässigen. Aber das ist, ob der Großartigkeit
des Gesamtwerks, zu vernachlässigen.
Autoreninfo: Jette Kaarsbol wurde 1961 im dänischen Hillerod geboren und
arbeitete als Dänisch- und Englischlehrerin, bevor sie »Das Versprechen der
Ehe« schrieb. Ihr Debüt brachte ihr den renommierten »Goldenen Lorbeer« und
den Buchpreis der Leser ein und wurde in mehrere europäische Sprachen
übersetzt. Derzeit schreibt sie an ihrem zweiten Roman.
Fazit
Dieser Debütroman ist ein glänzender Gesellschaftsroman, er vermischt sowohl
sprachlich als auch inhaltlich Altes mit Neuem, Vertrautes mit Unbekanntem.
Tipp: Unbedingt lesen!
Vorgeschlagen von Heide John
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veröffentlicht am 15. Oktober 2006 2006-10-15 17:18:28