Johan Sletten stirbt. Und nun, wo er das weiß, will er keine mittelmäßigen
Romane lesen, keinen Kalender sehen und er möchte auch kein Morphium gespritzt
bekommen. Im Angesicht des Todes ist endlich die Zeit für Meisterwerke
gekommen: für "Macbeth", "Krieg und Frieden", "Die
Zauberflöte" und die "Bachschen Choräle". Denn das ist die
Großartigkeit, die in seinem Leben keinen Platz gefunden hat.
Der unscheinbare Einundsiebzigjährige blickt auf ein Leben zurück, das im
Mittelmaß verlief, in einer erschreckenden Durchschnittlichkeit. Er fühlte
sich zeit seines Lebens klein, unausgefüllt und würdelos. Im Angesicht des
Todes sieht Sletten sich als mittelmäßigen Zeitungsredakteur, mittelmäßigen
Vater und auch als mittelmäßigen Ehemann. Dennoch ist ihm ein großes Geschenk
zuteil geworden, ein Glück, das ihn durch die letzten dreiundzwanzig Jahre
getragen hat: seine zweite Frau Mai!
Mai ist die "Gnade", die dem Buch den Titel gegeben hat. Und so denkt
Johan Sletten auch in dem Augenblick, als sein Arzt ihm mitteilt, dass er
sterben muss, an die Haare seine Frau. Er möchte nichts wissen über
Therapieformen und Therapiemöglichkeiten, denn direkt vor ihm steht ja doch die
Unausweichlichkeit: das Ende, der Tod.
Mais Liebe hat Sletten in den letzten dreiundzwanzig Jahren begleitet und
getragen, ihn, der nichts Besonderes war - und nun bringt ihn diese Liebe zu der
ersten mutigen Entscheidung seines Lebens. Er möchte, dass seine Frau
"deren Liebe wie klares Wasser ist, von dem man ständig trinken
möchte", ihm einen letzten Liebesdienst erweist...
Linn Ullmann hat auf wenigen Seiten eine ergreifende Geschichte über zwei
eminent wichtige und sehr unterschiedliche Themen erzählt: Das Mittelmaß eines
menschlichen Lebens und die Sterbehilfe. Es ist ihr gelungen, Johans Slettens
qualvolles Sterben zu beschreiben und es mit der wunderbaren Liebe seiner Frau
zu verknüpfen.
Linn Ullmann wurde 1966 in Oslo geboren. Sie ist die Tochter von Liv Ullmann und
Ingmar Bergman. Sie arbeitete als Literaturkritikerin und Journalistin für die
renommierte norwegische Zeitung "Dagbladet". "Gnade" ist ihr
dritter Roman.
Fazit
Die Geschichte ist sehr schön erzählt, obwohl Johan und auch Mai als Personen
seltsam blass bleiben. Aber der Umgang mit diesem heiklen Thema besticht durch
großes Feingefühl - und dieser Roman kann nicht nur auf Menschen, die einen
Sterbenden begleiten, sehr tröstlich wirken.
Vorgeschlagen von Heide John
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veröffentlicht am 15. Oktober 2006 2006-10-15 17:18:27