Die Herausgeber haben die Firma Prognos AG beauftragt, die Schwächen des
deutschen Bildungssystems empirisch zu untersuchen, Leitbilder zu entwickeln und
Rahmenbedingungen aufzuzeigen, wie die Herausforderungen der nächsten 20 Jahre
in Wirtschaft und Gesellschaft bewältigt werden können. Systematisch
gegliedert wird für die verschiedenen Lebensalter der Ist-Zustand analysiert,
für Inhalte, Ort, Zeit und Qualität werden konkrete Empfehlungen
ausgesprochen.
Weil Bildung ein wesentlicher Zukunftsfaktor für die bayerische Wirtschaft sei,
fordern die Autoren sofortige und grundlegende Veränderungen, damit der
Wirtschaftsstandort Deutschland erhalten werden kann. Ihre Forderungen sind
unbequem: Schul- und Kindergarten-System müssen sich radikal ändern, das duale
Berufsbildungssystem wird durch eine Ausbildung für Berufsfelder ersetzt, die
Praxisferne der universitären Lehre muss der Vermittlung von Arbeitsfähigkeit
weichen.
Kernthesen der Autoren sind:
* Im Kindergartenalter wird das gerade offene Lernfenster der Kinder nicht
genutzt.
Gefordert wird ein bedarfsdeckendes, kostenfreies Betreuungsangebot für Kinder
bis zum 4. Lebensjahr und eine Qualifizierung des Personals für die neuen
Anforderungen.
* Im gesamten Bildungssystem wird zu viel Zeit verschwendet. Die Einschulung
findet zu spät statt, insgesamt werden zu wenig Unterrichtsstunden erteilt. Es
gibt kaum Leistungsanreize, das Erreichen von Noten wird für wichtiger gehalten
als der Erwerb von Schlüssel-Qualifikationen. Im Lernfenster während der
Pubertät muss mehr Wert auf die Entwicklung der Denkfähigkeit gelegt werden.
Ein soziale Pflichtjahr für alle über 17 Jahren soll Schlüsselqualifikationen
vermitteln. Die Qualität von Bildungseinrichtungen soll zukünftig gemessen und
dokumentiert werden, Wettbewerb ist erwünscht.
* Der Sonderweg des dreigliedrigen Schulsystems hat im Vereinten Europa keine
Überlebenschance. Für Leistungswillige ist das System zu wenig durchlässig.
* Die Überalterung der Gesellschaft und verstärkte Zuwanderung erfordern mehr
Investitionen in die Ausbildung hochqualifizierter Arbeitskräfte. Ein drohender
Fachkräftemangel kann nur abgewendet werden, wenn das untere Drittel
leistungsschwacher Schüler besser qualifiziert wird. Die zukünftige
wissensbasierte Dienstleistungsgesellschaft hat keinen Bedarf mehr an gering
qualifiziertem Personal.
* In Bayern herrscht schon jetzt Akademikermangel. Eine Studienabbrecherquote
von 23% verursacht unnötige Kosten. Die Qualifikation an den Hochschulen
zeichnet sich durch Lebens- und Arbeitsmarktferne aus. Die deutschen Hochschulen
sind im globalen Wettbewerb nicht konkurrenzfähig.
* Das deutsche Bildungsbürokratie schottet sich gegen Veränderungsversuche ab.
Die Lehr-Methoden sind modernisierungsbedürftig. Die obrigkeitsstaatliche
Bildungsaufsicht muss durch zeitgemäße Management-Modelle ersetzt werden. Die
fehlende Finanzierungsautonomie der Schulen ist leistungs- und
innovationsfeindlich. Die Lehrerbildung soll durch Veranstaltungen in
Diagnostik, Beratung und Management professionalisiert; Eignungsprüfungen für
Lehramtsstudenten sollen eingeführt werden. Die höhere
Qualifikation wird dann hoffentlich zu mehr Wertschätzung des Lehrerberufs
führen.
* Deutschland investiert weniger Geld in Bildung und Erziehung als der
OECD-Durchschnitt. Die Ausrüstung der Schulen im IT-Bereich ist ungenügend.
Der Umbau des gesamten Bildungssystem ist mit öffentliche Mitteln nicht zu
finanzieren; deshalb fordern die Autoren finanzielle Beteiligung an den Kosten
der Ausbildung durch Schul- und Büchergeld.
* Ohne Kooperation zwischen Schule, Elternhaus und Betrieben geht es nicht.
Einige Bevölkerungsgruppen hätten sich bisher Erziehung und Bildung entzogen
und die Konsequenzen durch die Gemeinschaft finanzieren lassen.
* Der Gegensatz von beruflicher Bildung und Allgemeinbildung ist überholt.
Klassische Bildungsideale, die sich an den Werten des beginnenden 20.
Jahrhunderts orientieren, überfrachten die Lehrpläne. Naturwissenschaftliche
und wirtschaftswissenschaftliche Bildung wird im Privatleben wie im Berufsalltag
benötigt. In Zukunft wird man in Netzwerken arbeiten und kundenorientiert
denken müssen.
.
* Beamtete Lehrer können dem Nachwuchs keine unternehmerischen Fähigkeiten
vermitteln.
* Alle müssen sich auf lebenslanges Lernen bis zum 65. Lebensjahr, erheblich
komplexeres Wissen und diskontinuierliche Erwerbsbiografien einstellen. Das
intergenerationelle Lernen muss aufgewertet werden.
Die Beschreibung des Ist-Zustandes kann jeder, der schulpflichtige Kinder hat,
aus eigener Erfahrungen bestätigen.
Einige Punkte werden von den Autoren vorsichtig umgangen:
* Zuerst müssen die Erziehenden in den Familien ihre Einstellung ändern; das
setzt die Fähigkeit zu Erziehung von Kindern als Schlüsselqualifikation
voraus. Die veränderte Kommunikation zwischen Schule und Elternhaus könnte
damit beginnen, die Thesen des Buches für die kritisierten "bildungsfernen
Schichten" verständlich zu formulieren.
* Bayrische Schüler erleben Schule bisher als Übungsfeld für
parteipolitische Ränkespiele, und finden selten Vorbilder für team- und
lösungsorientierte Prozesse.
* Mir fehlt in dem übersichtlich gegliederten Sachbuch die nüchterne Einsicht,
dass es im vereinten Europa auch keinen bayrischen Sonderweg geben wird.
* Patriarchalische Familienstrukturen, in denen religiöse Traditionen höher
geschätzt werden als Bildung, könne ebenfalls innovationsfeindlich sein.
* Die von den Autoren geforderte teamfähige, mehrsprachige, bestens
qualifiziert Generation dümpelt zur Zeit als Generation Praktikum in
finanzieller Abhängigkeit von Eltern und Partnern. Ohne berufliche Perspektive
wird es in dieser Altersgruppe kaum Familien geben; wem nützt dann ein
zukunftsfähiges Bildungs- und Erziehungssystem?
Fazit
Das Buch ist übersichtlich aufgebaut, leicht zu lesen und bietet eine Fülle
von Diskussionspunkten, mit denen sich manch fesselnde Unterrichtsstunde
gestalten ließe.
Vorgeschlagen von Helga Buss
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veröffentlicht am 16. August 2006 2006-08-16 17:03:24