Erstmals leitete Russland im Sommer 2006 den Gipfel der G8, der führenden
Industriestaaten der Welt. Dies war ein Anlass für zahlreiche Artikel und
Berichte über das gegenwärtige Russland unter Präsident Wladimir Putin.
Gernot Erler, heute Staatsminister im Auswärtigen Amt, hat sich sein Leben lang
mit russischer Geschichte beschäftigt und spricht fließend russisch.
"Seit 40 Jahren beschäftige ich mich mit diesem Land, habe seine Sprache
gelernt, seine Geschichte studiert und gelehrt, ungezählte Gespräche über
diesen "besonderen Stoff" geführt." Dies merkt man. Kompetent
wie selten ein Autor führt Erler in die Geschichte und Politik des
gegenwärtigen Russlands ein. Dabei versucht er, die Probleme des Landes nicht
über eine Analyse der Person und Biographie Wladimir Putins anzugehen. Dies
stellt für ihn lediglich eine Rechtfertigung der autokratischen Regierungsform
dar.
Er richtet den Blick exemplarisch auf drei aktuelle Konflikte, die zeitlich
parallel ablaufen. Zunächst analysiert Erler den "Fall Beslan" und
die Frage, wie die russische Führung auf diese brutale Herausforderung reagiert
hat. Dann analysiert er den "Fall Chodorkowskij" und zeigt hierbei
auf, worum es dem Kreml eigentlich geht: um totale Kontrolle der russischen
Erdöl- und Gasreserven durch den Staat. Auf der Basis einer Fusion des
Gas-Giganten Gasprom und des staatlichen Erdölkonzerns Rosneft soll ein
marktbeherrschender staatlich kontrollierter Energiekonzern entstehen. Putin hat
erkannt, dass nicht mehr militärische Stärke, sondern wirtschaftliche Macht
den Großmacht-Status einer Macht im 21. Jahrhundert bestimmt. Gleichzeitig
baute Putin durch die Verhaftung Chodorkowskis seine eigene Macht aus und
trennte sich von Mitarbeitern des früheren Präsidenten Jelzin, etwa dem
Ministerpräsidenten Kasjanow. Mit dessen Sturz wurde Putins "zweite
Machtübernahme" (S. 89) eingeleitet.
Interessant stellt der Autor, der sich in zivilgesellschaftlichen Organisationen
engagiert, den Verfall der Zivilgesellschaft in Russland unter Putin dar.
Dennoch plädiert er am Ende für eine konstruktiv-kritische Partnerschaft. Wenn
man alle Beobachtungen der gegenwärtigen Entwicklung Russlands zusammenfasse,
stelle man fest, dass eine Transformation und Modernisierung der russischen
Gesellschaft nach westlichem Muster in ihrem Innern mit erheblichen
Gegenkräften zu rechnen habe. Die Trauerarbeit an dem Verlust imperialer
Größe sei noch nicht abgeschlossen, sie gleite immer wieder ab in eine
risikobeladene nostalgische Sehnsucht nach den Sowjetzeiten. Der russische
Präsident sei ein Produkt dieser Gesellschaft, er sei gegen die genannten
Obsessionen und Reflexe nicht immun (S. 171). Putins eigene Erwartungen an die
"Russische Idee", der Suche nach einer neuen Bestimmung Russlands als
Großmacht, verbinde russische Traditionswerte mit westliche Modernität. Den
Partnern empfiehlt Erler, Russland einzubinden und nicht auszugrenzen, das
Russland "im Kommen sei", wie der Titel besagt. Die Menschen in
Russland hätten viel durchgemacht, aber es wachse eine neue Generation heran,
die durch Jugendaustausch an andere Werte und Ideen herangeführt werden müsse.
"Es ist gut, dass Russland und Deutschland...ein Abkommen über einen
vewrstärkten Jugendaustausch geschlossen haben, übrigens der bisher
sichtbarste ERfolg des "Petersburger Dialogs". Wer in jungen Jahren
sich ernsthaft und über Monate hinweg mit der Sprache, dem Leben, der Kultur
und dem Denken des anderen Landes beschäftigt hat, der behält seine Neugier,
seine Antennen und sein besseres Verständnis für das, was das vor sich geht,
sein Leben lang." Darin, dass diese "moderne" Generation bald die
Verantwortung in Russland übernehme, liege laut Erler die Hoffnung für die
Zukunft.
Fazit
Es sind oft die "kleinen" Bücher am "Rande", die geistig
besonders anregen. Für mich stellt Erlers kleine Broschüre das beste Buch
über das Russland Putins dar, welches ich gelesen habe - und ich habe viel
über Russland gelesen und gesammelt. Mit großem Einfühlungsvermögen und
Kenntnis schafft es der Autor, ausgewiesener Kenner der Materie, in das
Wesentliche der Probleme des Landes einzufügen. Wer dieses Buch gelesen hat,
versteht Russland. Und dies ist eine Leistung. Unbedingt lesen!
Vorgeschlagen von Bernhard Nowak
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veröffentlicht am 12. August 2006 2006-08-12 12:01:48