Edgar Wolfrum, Professor für Zeitgeschichte an der Universität Heidelberg,
unternimmt das Wagnis, auf 694 Seiten eine Gesamtdarstellung der Geschichte der
Bundesrepublik Deutschland vorzunehmen. Dabei beleuchtet er mehrere Aspekte,
unter denen die Geschichte Deutschlands nach 1945 untersucht werden kann. Er
unterscheidet: Nation und Nationengeschichte, Supranationalität und
internationale Verflechtung, Modernisierung und Demokratisierung,
Liberalisierung, "Westernisierung" und Zivilisierung,
Belastungsgeschichte als Nachgeschichte des Dritten Reiches, Ankuftsgeschichte,
Hegemoniegeschichte oder Niedergangsgeschichte, wobei die Geschichtsschreibung
auch als Vorgeschichte heutiger Probleme gedeutet werden könnte. Wolfrum, der
dem politischen System der Bundesrepublik wohlwollend gegenübersteht,
bezeichnet sie als "geglückte Demokratie" und nimmt damit ein Diktum
von René Allemann: "Bonn ist nicht Weimar" aus dem Jahre 1956 auf.
Das Buch beginnt mit einem Kapitel über Deutschland nach dem Krieg, das die
alliierte Besatzungszeit 1945-1949 und die Ursachen der Spaltung des Landes
beschreibt. Wolfrum entscheidet sich, die Geschichte der Bundesrepublik in vier
Teile zu teilen: 1.) das Gründungsjahrzehnt von 1949-1959, 2.) die Ära neuer
Dynamik und Liberalisierung von 1959/60 bis 1973, 3.) die Epoche
längerfristiger Probleme und der Globalisierung von 1974 bis 1989 und der
Wandel von der Bonner zur Berliner Republik 1990 bis heute.
Die Gliederung ist nicht ganz unproblematisch. So ist die Epoche der
Globalisierung oder "Glokalisierung", einen Begriff, der das
Nebeneinander von Globalisierung und Lokalisierung bezeichnet und den Wolfrum
auf S. 502 als Kennzeichen der heutigen Zeit und damit der Gegenwart einführt,
auch Kennzeichen der Welt nach dem Ost-West-Konflikt. Immanuel Geiss etwa nennt
in seiner "Weltgeschichte" die Zeit nach 1990, nach dem
Ost-West-Konflikt als Zeitalter der Globalisierung. Warum soll gerade sie 1989
zu Ende gegangen sein?
Ansonsten ist die Schwerpunktsetzung, in den jeweiligen Großkapiteln die
Innenpolitik (also Politik und Staat, Institutionengefüge,
Institutionenentwicklung, politische und ökonomische Konflikte und
Entscheidungen, Gesetzgebung, Regierungshandeln und Regierungswechsel), die
Außenpolitik (als Problem von supranationaler Einbettung der Bundesrepublik
einerseits und fortbestehender nationaler Ansprüche angesichts der bis 1989/90
offenen deutschen Frage andererseits sowie allgemein die Veränderung im
internationalen System, Europäisierungs- und Globalisierungstendenzen und die
weltwirtschaftlichen Verflechtungen) und die Sozialkultur (als Zusammenhang von
Gesellschaftund Kultur, innerer Demokratisierung und neuen Belastungen, dem
sozialen Strukturwandel) zu beschreiben, gut gelungen. Ähnlich wie Manfred
Görtemakers "Geschichte der Bundesrepublik Deutschland" von 1999
bleibt Wolfrum also nicht bei der Darstellung der reinen Ereignisgeschichte
stehen, wenn mir auch die Darstellung der postindustriellen Gesellschaft und der
Kulturgeschichte bei Görtemaker besser gelungen scheint, während Heinrih
August Winklers "langer Weg nach Westen" (zu) sehr Ereignis- und
Kabinettsgeschichte betont.
Mir ist das Werk an manchen Stellen zu unkritisch geraten; zu sehr wird - trotz
der wirtschaftlichen Probleme, die dem politischen System Deutschlands und
seinem Sozialstaat zu schaffen machen und langfristig eine Bedrohung der
bisherigen Stabilität des politischen Systems bewirken kann, der
Stabilisierungseffekt der "geglückten Demokratie" betont. Der -
optimistischen Feststellung "Die Befunde von Soziologen und Politologen
sind indessen überall widersprüchlich: Kommt es zu einer Re-Dramatisierung der
gesellschaftlichen Gegensätze? Alt gegen Jung, armut gegen Reichtum,
Arbeitsplatzbesitzer gegen Arbeitslose, Eltern gegen Kinderlose, Ost gegen West?
Haben sich die bundesdeutschen Institutionen abgenutzt, unterliegen die
verschiedenen politischen und gesellschaftlichen Arragements einem Verschleiß,
erodieren gar die Fundamentalstrukturen? Es scheint viel mehr so, daß eine
notwendige Evolution abläuft, die letztlich zu neuer Stabilität führen
kann" ist meines Erachtens nur bedingt zuzustimmen. Roman Herzog hat von
der alarmierenden Reformunfähigkeit der westlichen Gesellschaften gesprochen,
die Notwendigkeit einer Föderalismusreform zeigt doch, dass das Schlagwort der
"blockierten Republik" und "Konsensdemokratie", die zu
durchgreifenden Reformen nicht fähig scheint, offenbar zutrifft. Hier hätte
ich mir kritischere Reflexionen gewünscht.
Fazit
Ansonsten: eine sehr lesenswerte und verständlich geschriebene Einführung in
die Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, die neben den Standardwerken von
Görtemaker, Winkler und Kielmansegg und dem mit Spannung erwarteten fünften
Band von Wehlers: "Deutscher Gesellschaftsgeshichte" in Zukunft zu den
Standardwerken zum Thema gehören wird.
Vorgeschlagen von Bernhard Nowak
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veröffentlicht am 08. April 2006 2006-04-08 16:02:06