Östlich der California Avenue in Chikagos jüdisch geprägtem Viertel West
Rogers Park ist angeblich die Welt noch in Ordnung. Die wohlhabenden Bewohner
des Ost-Teils sehen auf die kleinen Leute im Westen herab. Das Überqueren der
California Avenue ist nur in einer Richtung vorgesehen: beim gesellschaftlichen
Aufstieg von West nach Ost.
Die Ehepaare Wasserstrom und Rovner haben verinnerlicht, was sich für jüdische
Kinder gehört und was nicht. Alltag und religiöse Bräuche sind ritualisiert
und nicht diskutierbar. Schwer zu entscheiden, ob ein Goij schlimmer ist als ein
Nejger; als Ehepartner sind beide nicht vorgesehen. Zum Jahreswechsel 1979/1980
sind die verwöhnten Mittelschichtkinder Michelle und Jill Wasserstrom und Lana
und Larry Rovner mit ihrem Schul-Abschluss, Theaterproben und der ersten großen
Liebe beschäftigt. Jeder Tag ist eine neue Gratwanderung zwischen Anpassung und
Aufbegehren. Am Rande von Depression und Größenwahn entwickeln die
Jugendlichen sich zielstrebig weiter. Ihre überlasteten Eltern wissen nicht,
was der Nachwuchs treibt und wollen es wohl auch nicht wissen. Die Phase der
elterlichen Überbehütung ist nahtlos in den Zustand übergegangen, wenn
Jugendliche von ihren Eltern nur Geld, das Auto oder gleich beides wollen.
Die Erwachsenen - mit den eigenen Obsessionen und Krisen beschäftigt - werden
sich noch wundern; denn nicht nur Jill hat es faustdick hinter den Ohren. Der
junge Schwarze Muley Wills, Jills Klassenkamerad, hält sich für den Ernährer
seiner Zwei-Personen-Kleinfamilie und schafft Geld durch Tütenpacken und die
Teilnahme an Preisausschreiben heran. Während er erste Erfahrungen als
Regisseur sammelt, können die Leser des Familien-Epos wie durch Muleys
Kamera-Objektiv die Überquerung der California Avenue in beiden Richtungen
verfolgen.
Die Beziehungen der beiden Familien und der allein erziehenden Deirdre Wills
sind geschickt miteinander verknüpft. Langers mehr als zwanzig
Ensemble-Mitglieder treffen als Kollegen, Partner, Ex-Partner, Angestellte,
Lehrer und Therapeuten aufeinander. Der Alltag der beiden jüdischen Clans und
der von Mutter und Sohn Wills wird mit Humor und Selbstironie geschildert.
Fortsetzung:
Die windige
Stadt
Fazit
Besonders gelungen ist die einfühlsame Darstellung der Jugendlichen zwischen
Pubertät und dem "Ernst des Lebens". Bis zur letzten Seite jongliert
der Autor mit überraschenden Wendungen und Begegnungen. Auf über 500 Seiten
wird es niemals langweilig, man behält stets den Überblick, aus wessen
Perspektive gerade erzählt wird.
Vorgeschlagen von Helga Buss
[Profil]
veröffentlicht am 17. März 2006 2006-03-17 10:18:01