Die Epoche der Spätantike, diese Transformationsphase der antiken
Mittelmeerwelt im Zeitraum vom Ende des 3. bis zum Anfang des 7. Jahrhunderts
nach Christus, zählt zu den faszinierendsten Zeitabschnitten der
Menschheitsgeschichte. Die Christianisierung des Römischen Reiches seit
Konstantin dem Großen, die Völkerwanderung, die Formierung der germanischen
Nachfolgereiche im Westen auf dem Boden des zerbröckelnden Imperium Romanum,
der Untergang Westroms, der Einbruch des Islam und der Wandel des Oströmischen
Reiches zum Byzantinischen Reich des Mittelalters - all dies beschäftigt seit
Jahrhunderten die Gedanken der Menschen in Europa; es sei auch nur auf Edward
Gibbons "Decline and Fall of the Roman Empire" hingewiesen. Lange Zeit
galt die Spätantike als Verfallszeit, als Zeit des Niedergangs. Das hat sich in
den letzten drei Jahrzehnten gründlich geändert: In der historischen Forschung
wird vielmehr auf die originären Leistungen dieser Zeit aufmerksam gemacht und
versucht, die Spätantike als eigene Epoche zu begreifen, die in vielerlei
Hinsicht das Bild Europas entscheidend formte.
Diesem "Positivtrend" setzt der in Oxford lehrende Archäologe
Ward-Perkins, der unter anderem Mitherausgeber des 14. Bands der "Cambridge
Ancient History" war, ein wesentlich düsteres Bild entgegen. Die
Spätantike war für ihn, wenigstens im Westen des Imperiums, eine Krisen- und
Katastrophenzeit. Er wehrt sich explizit dagegen, diesen Zeitraum als
Transformation zu begreifen: Auf den Punkt gebracht war es das "Ende der
Zivilisation" im Westen, wo die Menschen in einigen Regionen, wie
Britannien, auf einen prä-historischen Lebensstandard zurückgefallen seien.
Diese Einstellung kommt bereits in den Kapitelüberschriften zum Ausdruck:
"The Horrors of War", "The Road to defeat", "Living
under the new Masters", "The Disappearence of Comfort" sind nur
einige Beispiele für den eindringlichen Stil, den Ward-Perkins pflegt ([mit dem
Fall Roms]..."Art, Philosophy, and decent drains all vanished from the
West...") - und der, dies sei ausdrücklich hervorgehoben, absolut
überzeugen kann.
Ward-Perkins gibt keinen detaillierten Überblick über die Ereignisgeschichte
(dafür sei auf das Buch von Peter Heather verwiesen, welches ähnlich gut
geschrieben ist, aber teils von einem anderen Ansatz ausgeht: Peter Heather, The
Fall of the Roman Empire, London u.a. 2005), sondern betrachtet vor allem die
Auswirkungen der Ereignisse auf die Menschen, die im Imperium lebten. Über die
Ansiedlung der Westgoten in der Provinz Aquitanica II 418/19 (im heutigen
südwestlichen Frankreich) schreibt er etwa: "I doubt very much that the
inhabitants of the Garonne valley in 419 were happy to have the Visigothic army
settled amongst them..." (S. 54). Gerade Ward-Perkins' archäologische
Kenntnisse fließen immer wieder in die Darstellung mit ein und vermitteln dem
Leser ein lebendiges Bild vom Verfall des Lebensstandards in Teilen des
Imperiums.
Lebhaft und teils sehr detailliert schildert Ward-Perkins das Einsickern bzw.
die Landnahme der "Barbaren", den darauf folgenden Verlust von
Steuereinnahmen für das Weströmische Reich - und den Niedergang der
Staatsgewalt im Westen sowie die Formierung der Nachfolgestaaten. Ostrom, der
Teil des Römischen Reiches, der die Völkerwanderung intakt überstand, wird
von ihm nur angerissen - das Erklärungsmuster greift hier auch kaum, denn
schließlich bestand das in der Moderne als "Byzantinisches Reich"
titulierte Reich im Osten noch bis 1453 fort.
So sehr der Rezensent Ward-Perkins' Stil nur loben kann, ebenso wie manche
seiner äußerst intelligenten und scharfsinnigen Schlussfolgerungen:
Anschließen will er sich seinem Gesamtfazit (S. 182f.) nicht. Sicher ist es
unbestreitbar, dass die Spätantike mit zahlreichen Schrecken für die
Bevölkerung der betroffenen Gebiete verbunden war. Verallgemeinern kann man
dies jedoch nicht. Während in Britannien die römische Zivilisation bald nach
dem Einbruch der Angel-Sachsen (die zudem nur in kleineren Gruppen auf die Insel
kamen) unterging, florierte in Gallien die gallo-römische Kultur noch bis in
die Merowingerzeit. Ebenso war das Reich der Westgoten nicht ein durch und durch
"barbarisiertes Staatswesen", sondern knüpfte in vielerlei Hinsicht
an die spätrömische Kultur an, was auch einige nicht unbedeutende westgotische
Gesetze verraten. In Italien erlebte die spätantike Kultur unter dem
Ostgotenkönig Theoderich dem Großen noch einmal eine gewisse Blüte und ging
erst infolge der "Reconquista" des oströmischen Kaisers Justinian
sowie durch den Einfall der Langobarden 568 zugrunde.
Fazit
So bleibt am Ende ein geteiltes Fazit: Ward-Perkins' Abhandlung über den Fall
Roms bietet viele interessante Denkanstösse, ist hervorragend geschrieben und
mit teils außergewöhlich guten Abbildungen versehen. Auch wird die neueste
Forschungsliteratur miteinbezogen. Auf gut 180 Seiten Text wird dem Leser ein
Panorama der spätantiken Welt ausgebreitet und ein fesselndes Leseerlebnis
geboten. Freilich sollte man dabei nicht vergessen, welche anderen
Interpretationsmöglichkeiten diese bewegte Zeit zu bieten hat - dabei sei vor
allem auf Peter Browns Kulturgeschichte verwiesen (The Rise of Western
Christendom, 2. überarb. und erweiterte Aufl., Oxford 2003), auf die
Ward-Perkins teils explizit Bezug nimmt. Freilich verschweigt auch Brown nicht
die Schrecken der Völkerwanderung, verweist aber auch stärker auf den
kulturellen Wandel und die Metamorphose der antiken Welt.
Jeder Leser, der sich diesen teils äußerst komplexen Sachverhalten bewusst
ist, wird Ward-Perkins' Buch mit viel Gewinn lesen und wird hoffentlich gerade
über die Anregung des Autors auf S. 183 nachdenken: Die Römer glaubten, ihre
Welt würde für immer weiter existieren, ohne irgendwelchen Wandel durchlaufen
zu müssen. Uns geht es heute nicht viel anders.
Vorgeschlagen von B. Kiemerer
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veröffentlicht am 07. Februar 2006 2006-02-07 17:13:54