Noch eine Biographie über Michail Gorbatschow? fragte ich mich, als ich die
Ankündigung gelesen hatte. Ich interessiere mich sehr für die neuere russische
Geschichte und habe alle bisher in Deutsch erschienenen Gorbatschow-Biographien,
von der von Christian Schmidt-Häuer bis zu der jetzigen von Klaus-Rüdiger Mai
gelesen. Um es kurz zu sagen: diese Biographie ist beeindruckend für
denjenigen, der genauer über die Kultur- und Geistesgeschichte Russlands
informiert werden möchte. in Anlehnung an die Publikationen von Richard Pipes,
Orlando Figes und Alexander Jakowlew zeichnet der Autor ein bedrückendes Bild
über die kommunistische Herrschaft der Sowjetunion. Der Autor verwendet auch
Schriften von Gorbatschow, unter anderem dessen Erinnerungen. Dabei wird
deutlich, dass Gorbatschow versucht hat, den patrimonialen Staat (Richard Pipes)
freiheitlich zu gestalten. Damit ist er gescheitert. Wasilij Grossmans Edikt:
"Russland hat in den tausend Jahren seiner Geschichte viel Großes
gesehen...Nur eines hatte Russland in dem Jahrtausend nicht gesehen - die
Freiheit" (S. 323)ist korrekt. Es bleibt das Verdienst Gorbatschows, die
Demokratisierung in Russland eingeleitet zu haben, wird von Dr. Klaus Rüdiger
Mai gut dargestellt. Gerade in der heutigen Zeit, in der unter Präsident Putin
Autoritarismus und restaurative Tendenzen in Rußland einziehen, wird
Gorbatschows Verdienst - im Abstand von 20 Jahren - deutlich. "Gorbatschows
Bedeutung für Russland liegt darin, das er wie kein zweiter im vorigen
Jahrhundert die Gesellschaft reformiert und die Welt zum Guten verändert
hat." Darin ist Mai recht zu geben. Zu kurz kommt mir allerdings die
Regierungszeit Gorbatschows ab 1985, insbesondere die wirtschaftspolitischen
Fehlentscheidungen. An die Biographie Archie Browns: "Der
Gorbatschow-Faktor" (die leider im Literaturverzeichnis nicht erwähnt
wird) kommt die Biographie nicht heran. Die Auseinandersetzung mit dem
diktatorischen Regime des Stalinismus ist allerdings gut gelungen. Insofern eine
- gerade im Abstand - gut zu lesende Kurzbiographie, die die Verdienste
Gorbatschows betont, allerdings ihre Schwerpunkte auf die Entwicklung des
totalitären Systems vor 1985 hat.
Fazit
Interessant ist das insgesamt nüchterne Fazit: Jelzin und Putin hätten
Gorbatschows Erbe verspielt und momentan sei ein Rückschritt zur
halbsowjetischen "gelenkten" Demokratie eines Wladimir Putin zu
beobachten, der allerdings kein Diktator, allerdings auch kein Demokrat sei.
Richtig bleibt, dass ohne das Verständnis der von Gorbatschow geprägten
Epoche, Russland nicht verstehen kann. Insgesamt trotz obiger Schwächen eine
interessante Einführung in die sowjetische Geschichte des 20. Jahrhunderts.
Lesenswert.
Vorgeschlagen von Bernhard Nowak
[Profil]
veröffentlicht am 28. Januar 2006 2006-01-28 15:59:18