Wenn man nach 477 Seiten ein Buch mit einem leichten Seufzer aus der Hand legt
und es kaum erwarten kann, dass eine Fortsetzung, ein zweiter Band erscheint,
dann kann man sich sicher sein, ein gutes Buch gelesen zu haben, eines, das
einem im Gedächtnis bleiben wird. Marco Kunst ist es gelungen, mit seinem
ersten Roman solch einen Eindruck zu hinterlassen. "Gelöscht", heißt
das Werk, das bei Gerstenberg erschienen ist und quasi schon jetzt nach einem
zweiten Band schreit. Die Handlung spielt in der Zukunft, in der die Welt George
Orwells und Aldous Huxleys längst Realität geworden ist. Die Menschheit, die
zunächst scheinbar isoliert in einer einzigen Stadt lebt, wird beherrscht von
"Big Brother", dem alles umfassenden und kontrollierenden
Zentralcomputer, kurz CC genannt. Die Menschen sind glücklich, haben keine
Sorgen und müssen sich wirklich um nichts mehr kümmern. Kranke gibt es nicht,
Alte gibt es nicht, denn von einem gewissen Zeitpunkt an werden die Bewohner
dieser Stadt einfach "gelöscht" und zwar so gründlich, dass sich
niemand und nichts mehr an sie erinnert. Und dann geht es zurück in den großen
"Kreislauf". Doch manchmal passieren eben auch einem CC klitzekleine
Fehler.
Als der Junge Sig - durch eine Unaufmerksamkeit - eines Tages aus Versehen die
Grenzen der Stadt, die von einer riesigen Mauer umgeben ist, überschreitet, da
ist er plötzlich ausgeschlossen von seinem bisherigen Leben, denn es gibt
keinen Weg zurück in diese Welt. Doch Sig hat Glück im Unglück, denn der
Zentralcomputer hat "vergessen" ihn zu löschen - und so kann sich Sig
an sein früheres Leben gut erinnern.
Jetzt aber ist der Junge ausgestoßen aus der Gesellschaft, die ihn bislang
behütet und beschützt hat, irrt über Müllhalden der Konsumgesellschaft und
fühlt sich einsam und verlassen. Merkwürdige Wesen, Tieren ähnlich, begegnen
ihm und er muss sich vor ihnen verstecken. Erst als Sig Pilaster trifft, einen
alten Mann, dem vor vielen Jahren ein ähnliches Schicksal widerfahren ist wie
ihm selbst, keimt Hoffnung in dem Jungen auf. Es beginnt für Sig ein neues
Leben, das so gar nichts mehr mit dem alten Leben in der Stadt zu tun hat, und
es entwickelt sich eine Freundschaft zwischen den beiden, die tief und ehrlich
ist, von Hoffnung geprägt, doch leider schon bald ein abruptes Ende findet.
Doch Sig hat sein Ziel gefunden. Er geht einen Weg, der nicht immer einfach ist,
voller Gefahren steckt, spannende Abenteuer bringt und ihn noch vor so manche
Herausforderung stellt.
Fazit
Natürlich hat der in Amsterdam lebende Marco Kunst sein Buch als Jugendbuch
konzipiert. Der Protagonist ist um die 13, 14 Jahre alt, geht eigentlich noch
zur Schule und hat bislang ein sorgenfreies Leben geführt. Aber warum soll man
literarische Grenzen nicht aufweichen, empfehlenswert ist die Lektüre dieses
Buches allemal auch für eine ältere Leser - zumindest dann, wenn ihnen gut
gemachte Science-Fiction-Bücher liegen.
Aber Kunsts Buch ist sogar noch ein wenig mehr als nur spannende Lektüre. Denn
die Außenwelt, in die Sig gestoßen wird, zeigt, dass das vermeintlich
isolierte und glückliche Leben in der abgeschlossenen Stadt mit seinen vielen
modernen Erfindungen und Errungenschaften vielleicht doch nicht so
erstrebenswert ist wie man zunächst annehmen mag. Wer möchte, kann aus dem
Roman, der sich in insgesamt drei Teile gliedert, also sogar
Gesellschaftskritik lesen, wobei Kunst weder die hoch technisierte- noch die
"back to nature"-Gesellschaft für unbedingt erstrebenswert hält,
sondern eine Mischung aus beidem favorisiert.
Schon heute darf man gespannt auf das sein, was der niederländische Autor, der
Philosophie studierte, mit seiner Feder auf Papier bannen wird.
Vorgeschlagen von Martina Meier
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veröffentlicht am 23. Januar 2006 2006-01-23 21:58:24