Die Brüder Jem, Ned und Billy haben es faustdick hinter den Ohren, streunen
jeden Tag durch die Straßen Londons und nehmen es mit "mein" und
"dein" nicht immer so ganz genau. Ihr tägliches Leben ist ein Kampf
ums Überleben, denn die Familie Perkinski ist arm, stammt von Zigeunern ab und
lebt in zwei alten, herunter gekommenen Wohnwagen in einem ärmlichen Stadtteil
Londons. Wie ihnen geht es zur Regierungszeit Königin Viktorias im 19.
Jahrhundert - der Handlungszeit des Romans - vielen Menschen in England, und so
wundert es auch nicht, dass Armut das beherrschende Thema des Buches
"Kleine Diebe in großer Gefahr" von Bowering Sivers ist.
Bei einem der kindlichen Streifzüge durch die Stadt wird Billy, der jüngste
der drei Brüder, entführt. Er findet Unterkunft bei einem Schornsteinfeger,
der sich auf diese "ungewöhnliche" Art immer wieder neue Lehrlinge
für sein schmutziges Handwerk sucht: Er raubt kleine Kinder - Billy ist gerade
einmal fünf Jahre alt - schlichtweg von der Straße. Um ihr bisschen Essen zu
verdienen, müssen die Kleinen dann tagein, tagaus Kamine hoch- und
runterklettern und diese säubern. Eine verdammt schmutzige Arbeit, die mit
vielen Gefahren verbunden ist.
Dass dabei nämlich mancher immer wieder schwer verletzt wird und sogar zu Tode
kommt, erfährt Billy gleich am ersten Abend im Hause seines neuen Lehrmeisters.
Denn hier leben noch einige andere Jungen, nur ein wenig älter als er selbst,
aber mit sehr viel Erfahrung, was das Schornsteinfegerhandwerk betrifft. Ihr
Anführer ist Pete, ein Junge mit großem Herzen und viel Sinn für
Gerechtigkeit.
Zeitgleich macht sich Billys Familie am anderen Ende der Stadt natürlich große
Sorgen um den verschwundenen Filius. Die Suche nach dem jüngsten Spross der
Familie beginnt, jeder versucht sein Bestes, doch schließlich haben Jem und Ned
die zündende Idee. Sie befragen einfach ihre "Gran", die Großmutter,
nach dem Verbleib des Bruders. Gran ist nämlich Hellseherin und Hexe in einer
Person.
Natürlich glauben alle, dass Großmutters Fähigkeiten reiner Schwindel sind,
doch dieses Mal scheint sie tatsächlich Recht zu haben. In ihrer Glaskugel
sieht sie Billy in den Händen von Terror, einen gefürchteten und maßlos
brutalen Mann, der im Londoner Stadtteil Walworth wohnt.
Ihm wird nachgesagt, dass er Kinder raubt und tötet - aber natürlich erzählt
man sich in London diese Geschichten nur hinter vorgehaltener Hand. Denn niemand
möchte etwas mit Terror zu tun haben.
Doch Jem und Ned sind tapfer. Sie wollen ja schließlich ihren kleinen Bruder
retten. Und so begeben sie sich tatsächlich in die Höhle des Löwen, eine
Gastwirtschaft namens George & Dragon, wo Jim Rippen alias Terror sein Lager
aufgeschlagen hat. Terror kann es dann auch kaum fassen, dass gleich zwei Jungen
freiwillig zu ihm kommen! Er nimmt sie natürlich in seinen Dienst, sperrt sie
aber genauso wie alle anderen Jungen im Keller ein, wo sie wie Tiere gehalten
werden.
Billy gelingt derweil die Flucht von Mr. B, dem Schornsteinfeger. Denn der geht
noch einer Nebenbeschäftigung nach: Nachts, wenn alle schlafen, bricht er in
die Häuser seiner Auftraggeber ein, um deren Wertsachen zu stehlen. Bei einer
seiner Diebestouren, zu denen Mr. B die Kinder ebenfalls als Handlager
missbraucht, geht etwas schief. Glück für Billy, so will es scheinen,
zumindest auf den ersten Blick, denn er kann entkommen.
Doch der Junge ist alleine und fürchtet sich. So ist Billy froh, dass er diesem
feinen Pinkel begegnet. Den kennt er von einem Besuch bei Gran und vertraut sich
ihm an. Doch dieser junge Mann, der sich als Sohn eines Herzogs ausgibt, ist
niemand geringerer als der Neffe von Terror, dem Mann, den alle fürchten. Und
genau bei dem liefert er Billy dann auch ab.
So finden die Brüder schließlich in einem dunklen Kellerloch wieder zusammen.
Und noch zwei Kinder gesellen sich dazu, Pete und Clem, die Tochter des
Schornsteinfegers, werden Opfer eines ziemlich miesen Tricks. Denn natürlich
hat Terror so seine Gehilfen in der Stadt, und gerade die haben Pete und Clem
mit einem fingierten Unfall auf den Leim geführt.
Ein düsterer Roman für Kinder? Mitnichten! Ein Roman, so spannend wie ein
Roman für Kinder nur sein kann. Fans von Oliver Twist und Huckleberry Finn
kommen hier voll auf ihre Kosten. Die englische Schriftstellerin Bowering
Sivers, die mit bürgerlichem Namen Brenda Bowering heißt, hat den Spagat
geschafft, die brutale Wirklichkeit des 19. Jahrhunderts im viktorianischen
England in eine Handlung zu betten, die spannungsgeladener kaum sein kann, hat
dabei nichts von der Härte der Zeit weggenommen und es dennoch geschafft, sie
kindgerecht zu präsentieren.
Die beiden Parallelhandlungen - Billys Leben nach der Entführung und die Suche
seiner Brüder nach ihm - geben eine große Bandbreite dessen wieder, was zu
dieser Zeit in einer Großstadt wie London tatsächlich hätte passieren
können.
Die Autorin zeigt Alltägliches, ohne es zu verschönern, lässt aber auch den
Hoffnungsschimmer durchblicken, den vielleicht jeder Mensch braucht, um in einer
solchen Wirklichkeit zu überleben.
Diese positive besetzte Figur ist Clem, ein Mädchen, das dank einer
Fuß-Verkrüppelung selbst ein hartes Schicksal zu meistern hat. Sie ist das
Bindeglied zwischen Gut und Böse, zwischen Schicksal und Hoffnung. Clem hilft
den Kindern, die im Dienste ihres Vaters, dem Schornsteinfeger Mr. B stehen, wo
sie nur kann. Gibt ihnen Essen und Liebe - und ist dabei doch selbst noch ein
Kind.
Ein Roman nur für Kinder? Mitnichten! Ein Buch, das Eltern wahrscheinlich aus
einem ganz anderen Blickwinkel lesen werden als ihre Sprösslinge. Die jungen
Leser werden die atemberaubend spannende Geschichte in den Vordergrund rücken.
Erwachsene aber werden mehr dahinter hinter dem Buch sehen (wollen) - und sicher
das ein oder andere Mal über die Brutalität erschrocken sein, die zwar niemals
direkt ausgeübt, aber immer wieder verbalisiert wird. Aber so war sie nun
einmal die Zeit, und auch Oliver Twist, an dessen Geschichte "Kleine Diebe
in großer Gefahr" mehr als einmal erinnert, ist heute längst ein
Klassiker der Weltliteratur, mehrfach verfilmt. Charles Dickens, der das Buch
1838 auf den Markt brachte, übte hier Gesellschaftskritik pur und prangerte die
Missstände seiner Zeit literarisch an.
Fazit
"Kleine Diebe in großer Gefahr" - ein Buch, das sicher von sich reden
machen wird. Allerdings, so ein kleiner Kritikpunkt an diesem ansonsten
fantastischen Werk, hätte das Buch einen aussagekräftigeren Titel verdient.
"Kleine Diebe in großer Gefahr" trifft die Geschichte zwar quasi
"in des Pudels Kern", doch ist er nicht unbedingt ein Magnet, um junge
Leser in die Geschichte zu ziehen. Zumal die "kleinen Diebe", heißt
die Leser, die das Buch ja erstrangig ansprechen soll, mindestens schon zehn
Jahre alt sein sollten - und da lässt man sich eben nicht mehr so gerne als
"klein" ansprechen.
Dem puren Lesegenuss allerdings steht dieser Titel nicht im Wege...
Vorgeschlagen von Martina Meier
[Profil]
veröffentlicht am 17. Oktober 2005 2005-10-17 20:18:31