Nach der deutschen Wiedervereinigung schien es den Herausgebern dieses Bandes
angebracht, Erinnerungsorte der deutschen Geschichte darzustellen und
"lebendig" werden zu lassen. Etienne Francois und Hagen Schulze, beide
renommierte Historiker in Berlin, haben in Anlehnung an eine französische
siebenbändige Publikation von Pierre Nora über Erinnerungsorte in Frankreich
einen ähnlichen Versuch in Deutschland gewagt. Mit der Wiedervereinigung sei
die Bundesrepublik Deutschland als einzig denkbare staatliche Hülle für das
Volk und damit kein Provisorium oder eine Utopie mehr. "Die fast
zweihundertjährige Geschichte einer widersprüchlichen, unfertigen, von den
Dämonen eines neurotischen Nationalismus getriebenen Volkes ist zu ihrem Ende
gekommen. Nietzsches Diktum: "Die Deutschen sind von vorgestern und von
übermorgen - sie haben noch kein heute" gilt nicht mehr." Daher
stelle sidh die Frage nach den Inhalten und Eigentümlichkeiten der deutschen
Erinnerungskultur auf neue Weise. Während Pierre Nora seine Unterscuhungen in
die KIontinuität der französischen Geschichte einordnet, ist die deutsche
Geschichte gekennzeichnet von Wandlungen und Brüchen. Daher legt diese
eindrucksvolle Sammlung deutscher politischer, kultureller und
zeitgeschichtlicher Erinnerungsorte Gewicht auf sogenannte "doppelte
Erinnerungsorte", Orte, die für die Deutschen und ihre Nachbarn von
Bedeutung sind. Auch wurde der Kreis der Autoren ausgeweitet: neben deutschen
Wissenschaftlern sind auch Franzosen, Briten und Polen beteiligt. Geschichte als
Erinnerung sei von Gegenwart und Zukunft nicht zu trennen. Aber: nur wer seine
Vergangenheit kennt, hat auch eine Ziukunft. "Geschichte als Erinnerung ist
von Gegenwart und Zukunft nicht zu trennen." Da haben die Herausgeber
völlig recht. Um so eindrucksvoller liest sich das Kompendium an Orten und
Personen, die diese Wissenschaftler, von Wolfgang J. Mommsen bis Gesine Schwan,
Iring Fetscher bis Adam Krzeminski, Bernd Roeck bis Michael Jeismann)
zusammengetragen haben. Wichtige Orte der deutschen Geschichte - Paulskirche,
Weimar, Ausschwitz - werden in ihrer Bedeutung ebenso beleuchtet wie wichtige
Personen der Geistes- und politischen Geschichte - Goethe, Schiller, Marx. Abe
auch BEwegungen - wie die Schrebergartenbewegung des 19. Jahrhunderts bis zu den
Achtundsechzigern - finden Erwähnung. So finden sich Überlegungen zum
Reichstag ebenso wie zum Palast der Republik der DDR, zur Bundesliga ebenso wie
zur Nationalhymne.
Ein umfangreicher Anmerkungsapparat zu jedem Aufsatz und ein Kurzportrait der
beteiligten Autoren rundet diese eindrucksvolle Sammlung ab.
Fazit
Wer Geschichte "lebendig" machen möchte, wer sie "erleben"
möchte, wer einen unvergleichlichen Einblick in politische, kulturelle und
Geistesgeschichte unseres Landes bekommen möchte, der lese dieses
hochinteressante Buch. Ihr Ziel, den Leser anzuregen, ihn nicht in ein
"geschlossenes System einzusperren", über vierzig Jahre getrennte
Erinnerung der beiden Deutschen Staaten lebendig werden zu lassen und einen
Beitrag zum Geschichtsbewußtsein unseres Landes zu leisten, haben die Autoren
mit diesem eindrucksvollen Werk erreicht.
Vorgeschlagen von Bernhard Nowak
[Profil]
veröffentlicht am 13. Oktober 2005 2005-10-13 21:32:55