Nikola Hahn hat einen neuen historischen Kriminalroman aus dem Frankfurt um die
Jahrhundertwende vorgelegt. Er ist insgesamt gut recherchiert, hat in mir
allerdings auch zwiespältige Gefühle hervorgerufen. Wie ihr erster Roman:
"Die Detektivin", ist "Die Farbe von Kristall" zugleich
Kriminal- und Gesellschaftsroman und als Fortsetzung zur "Detektivin"
geschrieben. Ohne Kenntnis der Handlung der "Detektivin" ist er meiner
Meinung nach jedoch nicht verständlich. Mit Victoria Biddling, Heiner Braun und
Kommissar Richard Biddling sowie Victorias Familie tauchen die Protagonisten der
"Detektivin" wieder auf. Wie im ersten Band spielt die Familie
Victorias eine zentrale Rolle.
Im Frankfurt des Jahres 1904 geschieht ein Mord: Unbekannte erschlagen den
bekannten Klavierhändler Hermann Lichtenstein. Die Nachricht verbreitet sich
wie ein Lauffeuer in der Stadt. Mit der Aufklärung des Falles beschäftigt sich
die erste weibliche Polizeiassistentin Laura Rothe, die eigentlich ein anderes
Aufgabengebiet zugewiesen bekommt. Sie soll sich als erste Frau im
Polizeipräsidium um verwahrloste Kinder und Jugendliche kümmern. Laura Rothe
ist der ersten weiblichen Stuttgarter Polizeiassistentin Henriette Arendt
nachgebildet. Sie übernimmt hier einige der Funktionen, die Victoria in der
"Detektivin" zugewiesen bekommen hatte. Der Preis dieser interessanten
Frauenfigur ist leider der, dass die Rolle Victorias im Vergleich zur
"Detektivin" deutlich reduziert ist und ihre "Ecken und
Kanten" verloren gehen. Es gibt im Fall Lichtenstein Hinweise, dass eine
Frau in den brutalen Mord verwickelt ist. Dieser hängt offensichtlich mit
mysteriösen Drohbriefen zusammen, die Kommissar Biddling seit Jahren erhält.
So ist es Laura Rothes detektivischem Spürsinn zu verdanken, dass Biddling bei
seinen Recherchen und Ermittlungen einen entscheidenden Schritt weiterkommt.
Doch die Spuren führen nicht nur zu Biddlings Familie, sondern in seine
Vergangenheit...
Wie in der "Detektivin" zeigt sich, dass hinter einer angeblich heilen
Familienfassade Hass, Eifersucht und Rache lauern. Besonders faszinierend an dem
Band ist - neben den starken Frauenfiguren - erneut der Frankfurter Lokalkolorit
(dieses Mal allerdings nicht in Sachsenhausen, sondern überwiegend im weiter
westlich gelegenen Bockenheim spielend), der das Alltagsleben der Menschen in
dieser Stadt um die Jahrhundertwende plastisch beschreibt.. Wurden die Kapitel
in der "Detetektivin" jeweils mit Äusserungen des 1850 zum Leiter der
Sicherheitspolizei ernannten späteren Kriminalpolizeidirektors Dr. Stieber
eingeleitet, so sind es dieses Mal Zitate aus der "Frankfurter
Zeitung". Die Kapitel spielen jeweils an dem Tag, an dem der Text im
Original erschien." Ich möchte mehr als Kriminalromane schreiben",
erklärte die Autorin. Ihre Romane versteht sie als Sittengemälde. Ein
umfangreiches Literatur- und Quellenverzeichnis belegt, wie genau die Autorin
recherchiert hat. Im Nachwort wird - wie in der Detektivin - die Polizeiarbeit
um die Jahrhundertwende bis zum Ersten Weltkrieg dargestellt. Die Fortschritte
in der forensischen Chemie und bei polizeilichen Fahndungsmaßnahmen werden
beleuchtet.
Im Gegensatz zur "Detektivin" werden dieses Mal zwei authentische
Fälle der Frankfurter Kriminalgeschichte zugrunde gelegt. So haben der
ermordete Hermann Richard Lichtenstein oder der interessanteste Charakter des
Buches, der mutmassliche Giftmörder Karl Emanuel Hopf (er erweist sich als
Kenner von Sherlock Holmes, den Victoria Biddling mit Vorliebe liest und dessen
Deduktionen bei der Aufklärung dieses Falles eine gewichtige Rolle spielen)
wirklich gelebt. Natürlich ist die Verbindung zur Familie Victorias und Richard
Biddlings fiktiv. Diese wirkt meines Erachtens zu konstruiert. Während die
Beziehung sowohl der Familie Biddlings als auch des - hier nicht zu verratenden
- Täters zu Hopf gut herausgearbeitet ist, scheint mir - vor dem Hintergrund
der glaubhaften Charakterdarstellung Lichtensteins - dessen Beziehung zu Familie
und Täter sehr weit hergeholt. Diese Feststellung gilt meines Erachtens jedoch
insbesondere für das Ende; die Begegnung des Täters mit seinem Opfer. Die
Motivation des Verbrechers für seine Handlungen wird auch in seiner
Rechtfertigung meines Erachtens nicht hinreichend deutlich gemacht. Eine Antwort
auf die Frage, warum er mehr als 20 Jahre verstreichen lässt, um sich für an
ihm vermeintlich begangene Ungerechtigkeiten zu rächen, ist mir zu
unwahrscheinlich und wirkt auf mich zu wenig plausibel. Insgesamt erscheint
diese fast surreale Szene mir nicht realistisch, glaubwuerdig genug. Dadurch
verliert der Roman fuer mich an dieser Stelle sehr stark an Niveau. Deutlich
wird dies, als der Verbrecher seine Opfer mit Maske, Pistole und Reitpeitsche
erwartet und sich sogar noch freut, sein Opfer mit einem Seil, mit dem es
gefesselt wurde, würgen und zusätzlich noch auspeitschen zu koennen! Die
Erklärung am Ende (in einem Brief am Ende des Romans angedeutet), diese Person
sei wohl verrückt, relativiert meinen Eindruck in diesem Falle nicht. Mehr kann
hier allerdings nicht verraten werden.
Daher gefällt mir die wesentlich kürzere "Detektivin", deren
Handlung rein fiktiv ist, eindeutig besser als die "Farbe von
Kristall". Hier ist der "Plot" meiner Meinung nach glaubwuerdiger
und realistischer gestaltet. Ich hatte das Gefühl, die in der
"Detektivin" geschilderten Geschehnisse hätten sich 1882 wirklich
ereignen koennen. Bei dem fiktiven Teil der Handlung von der "Farbe von
Kristall" im Jahre 1904 hatte ich diesen Eindruck allerdings nicht. Ich
haette es auch besser gefunden, wenn die "Farbe von Kristall"
ungefähr die Länge der "Detektivin" gehabt hätte, also ebenfalls
rund 450 Seiten. Die Handlung ist - nach meiner Auffassung - insgesamt zu
komplex und hat in der Mitte deutliche Längen, auch wenn das Buch insgesamt
durchaus spannend geschrieben ist. Für mich war es jedoch aufgrund des mir
persönlich zu verwirrenden Handlungsstranges daher recht schwer, bei den
zahlreich angesprochenen Themen die Übersicht zu behalten, zumal nicht alles
aufgeklärt wird. So bleibt die Frage offen, was letzten Endes mit der
erkrankten Frau Heiner Brauns geschieht. Wird sie wieder gesund? Wird sie
medizinisch behandelt? Bewaeltigt Braun das Problem? Hier hätte der Leser eine
definitive Antwort erwartet.
Pluspunkte: Auch "Die Farbe von Kristall" ist ein durchaus spannendes
Buch. Neben den sehr gut gezeichneten plastisch-realistischen Charakteren (ein
Pluspunkt des Buches!) wurde mir deutlich, dass die Wahrheit oft vielschichtig
differenziert und nicht eindimensional ist - wie schon der Titel verdeutlicht.
Ich habe noch nie so viel über Kriminalgeschichte erfahren wie in den beiden
Buechern Nikola Hahns.
Fazit
Das Buch ist wesentlich schwächer als die "Detektivin". Leser dieses
Buches werden meines Erachtens von der Fortsetzung enttäuscht sein.
Vorgeschlagen von Bernhard Nowak
[Profil]
veröffentlicht am 05. Dezember 2002 2002-12-05 00:00:01