"Sieben Hasensprünge hinter dem Ende der Welt, in einem Wald, wo die
Kiefern weiße Blätter und die Birken schwarze Nadeln tragen, liegt heute noch
eine Hexenschule."
So beginnt Franz Fühmann sein Märchen "Anna genannt Humpelhexe", das
2002 in einer Neuauflage im Hinstorff-Verlag mit einem Nachwort von Peter
Härtling erschienen ist. Inzwischen liegt die dritte Auflage dieses Buches
vor, das der DDR-Autor Franz Fühmann, der bereits 1984 starb, schon 1981
erstmals veröffentlicht hat.
Im Mittelpunkt der kurzen, schnellen Geschichte steht Anna, die von allen nur
"Humpelhexe" genannt wird, sogar von ihrer eigenen Mutter, was
besonders schmerzt. Anna hat nämlich ein kurzes und ein langes Bein und weigert
sich partout, ein Stück von ihrem langen Bein abhobeln zu lassen, um dann
"ganz normal" zu sein. "Es ist mein Bein", sagt sie,
"davon geb ich nichts her, das ist alles Anna."
Fühmann präsentiert hier eine selbstbewusste Hexe, die weiß, was sie will und
sich von ihrem Weg nicht abbringen lässt. Anna experimentiert so lange, bis sie
schließlich eines Tages ihre ganz eigenen Fähigkeiten entdeckt: Wenn sie auf
beiden Beinen läuft, dann humpelt sie. Läuft sie aber nur auf dem langen Bein,
dann ist sie so schnell wie der Wind und keiner kann mehr nachkommen. Schlägt
sie aber das lange Bein um den Hals und läuft nur auf dem kurzen Bein, dann
kann sie so langsam unterwegs sein, dass selbst eine Schnecke wie ein
Rennläufer gegen sie wirkt. Und Anna entdeckt zudem noch, dass man auf Händen
laufend die Welt verkehren kann. Das hilft besonders in der Mathematikstunde,
denn da wird der Lehrer plötzlich zum Schüler.
Mit diesen besonderen Fähigkeiten ausgezeichnet macht sich Anna daran, das Ende
der Welt zu erkunden.
Dieses Märchen Fühmanns ist sehr vielschichtig und kann anhand
unterschiedlicher Interpretationsansätze gelesen werden. Zum einen ist es
natürlich die Geschichte eines behinderten Mädchens, das sich und seine
Behinderung annimmt, es allen anderen beweist und zeigt, dass es eben andere
Stärken hat als eine "normale" Hexe.
Peter Härtling macht in seinem Nachwort darauf aufmerksam, dass Franz Fühmann
die Geschichte für eine junge behinderte Frau erfunden hat, die er in einer
psychiatrischen Klinik kennen gelernt hat. Vielleicht wollte er ihr Mut
machen...
Zum anderen aber ist Franz Fühmann natürlich auch ein Autor, der in der
ehemaligen DDR lebte. Und damit wird "Anna genannt Humpelhexe" auch zu
einem politischen Buch. Denn ist nicht Fühmann selbst, der oft an
Selbstzweifeln litt wie man immer wieder liest, "Anna genannt
Humpelhexe"? Der Dichter, der so anders ist als die Menschen um ihn herum,
der eine ganz andere Sicht der Dinge hat als die, die das politische System der
DDR vorgab? Der sich aufmacht, das Ende der Welt zu entdecken und dort nur
darauf stößt, dass sich zwei Brüder bis aufs Blut bekämpfen. Zwei Brüder in
der Zeit der Entstehungsgeschichte des Märchens, das könnten die BRD und die
DDR gewesen sein. Die sich politisch bekämpft haben ohne Rücksicht auf
Verluste. Anna, die Hexe, fragt schließlich erstaunt, ob sie wirklich Brüder
seien. Und die Riesen antworten: "Sieht man uns das nicht an?" Annas
Antwort kommt wie aus der Pistole geschossen: "Ihr seht beide gleich dumm
aus, das ist schon wahr."
Also beschließen die Brüder, Anna ins Feuer am Ende der Welt zu werfen. Den
Kritiker auslöschen, den unliebsamen Schriftsteller mundtot zu machen. Doch das
schlägt natürlich fehlt, denn Anna kann den Flammen dankt ihrer besonderen
Fähigkeiten gut entkommen. Die beiden Riesen allerdings stürzen ins Feuer und
verbrennen, so wird es zum Schluss der Geschichte angedeutet. Kurz bevor Anna
von ihrer Mutter geweckt wird...
Die Illustrationen von Jacky Gleich stützen beide Interpretationsansätze. Zum
einen ist da die kindlich gezeichnete Anna gemeinsam mit anderen
Märchenfiguren. Doch in der Illustration, die es zu dem Abschnitt über die
verkehrte Welt, in der die Kinder ihren Lehrer maßregeln, wird auch die
politische Dimension dieses nur 48 Seiten starken Buches deutlich. Hier steht
der überdimensional große Kopf des Mannes mit der schwarzen Brille im
Mittelpunkt, der Heft und Feder vor sich hält, aber nur feste Regeln im Kopf
hat.
Fazit
Doch gleich welchen Interpretationsansatz der Leser bevorzugt, das Buch von
Franz Fühmann sollte er auf jeden Fall einmal zur Hand nehmen.
Vorgeschlagen von Martina Meier
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veröffentlicht am 04. Juli 2005 2005-07-04 21:40:14