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Reinhold Andert: Nach dem Sturz

Nach dem Sturz

von Reinhold Andert
Verlag: Faber und Faber [mehr Bücher von diesem Verlag zeigen]
Sparte: Sachbuch
ISBN-13 978-3-932545-80-1

Preis: 19,90 Euro bei Amazon.de [Stand: 21. November 2024]
Nachdem ich das 1990 von Reinhold Andert und Wolfgang Herzberg im Aufbau-Verlag Berlin herausgegebene Buch "Der Sturz. Honecker im Kreuzverhör" mit großem Interesse gelesen hatte, war ich sehr gespannt auf die Fortsetzung "Nach dem Sturz. Gespräche mit Erich Honecker. Aufgezeichnet von Reinhold Andert". Und meine positive Erwartung wurde nicht enttäuscht.
Der Autor gibt in Zusammenfassungen von Gesprächen mit dem letzten Staatsoberhaupt der DDR in intimer Atmosphäre wieder, wie Honecker sich als heimatloser Privatmann in seinen letzten Jahren zu Fragen aus der Geschichte der DDR sowie zu deren Ende und der Zeit danach geäußert hat. Diese Aussagen bettet Andert ein in eigene Erinnerungen, Reflexionen und Tatsachenberichte, so daß ein abgerundetes Bild von einer ganzen Epoche und vom Scheitern eines gesellschaftspolitischen Jahrhundertversuchs entsteht. Die Art, wie er das tut, läßt sein ehrliches Bemühen erkennen, möglichst frei zu bleiben von erkenntnisbehindernden Vorurteilen. Er führt lediglich Sachverhalte vor Augen, das Bewerten überläßt er weitgehend dem Leser. Diese Autorenhaltung finde ich besonders bemerkenswert, da sie bei der Darstellung der DDR und ihrer Repräsentanten leider nicht häufig zu finden ist; die meisten Arbeiten, die seit 1990 zu diesem Thema veröffentlicht wurden, sind mehr oder weniger von einer - politisch bedingten - Voreingenommenheit der Autoren geprägt und kranken demzufolge an einer einseitigen und mit der historischen Wahrheit sehr großzügig umgehenden Betrachtungsweise.
Reinhold Andert, Jahrgang 1944, vor allem bekannt als Liedermacher, der 1980 aus der SED ausgeschlossen worden war, kennt die Vorzüge und die Schwächen des DDR-Sozialismus aus eigener Erfahrung, und er vermag sie in der Rückschau objektiv zu sehen. Er nennt Unrecht Unrecht (soweit es auch damals schon Unrecht war!), aber er verabsolutiert es nicht, wie es sonst das gedankenlose Reden vom "Unrechtsstaat" bis heute immer wieder tut. In der einfühlsam-subtilen Sprache eines verantwortungsbewußten Menschen, der mit dem Wort souverän umzugehen weiß, legt er tiefere Ursachen und Zusammenhänge frei, die sich bei allzu vereinfachender Sicht nicht erschließen lassen.
Andert ist sich offensichtlich der Tatsache bewußt, daß es zwei völlig verschiedene Dinge sind, eine Sache zu verstehen und sie zu billigen. Er beschönigt nichts, aber er unterliegt auch an keiner Stelle der Gefahr einer Pauschalverurteilung, die nicht nach den Quellen für bestimmte Fehlentwicklungen fragt. So erklärt er beispielsweise, durch welche historisch, politisch und psychosozial nachvollziehbaren Gründe die "Abschottung" der Mitglieder des Politbüros in Wandlitz ursprünglich zustande gekommen war und weshalb sie auch später noch ohne Not beibehalten worden ist. Trotzdem aber sieht er dieses verhängnisvolle Phänomen durchaus mit dem nötigen kritischen Abstand. Er beschreibt detailliert das Leben in dieser Siedlung und schildert sehr differenziert das unterschiedliche Verhalten einzelner Politbüromitglieder sowie ihren Umgang miteinander und mit dem Dienstpersonal, und er enthält sich dabei jeglicher plumper Verallgemeinerungen. Nirgendwo ist auch nur der leiseste Anflug zu spüren von Sensationshascherei und Enthüllungs-Journalismus. Es werden solche Themen berührt wie:
- das Politbüro der SED und seine Mitglieder,
- die Beziehung zwischen Honecker und Mielke,
- das gestörte Verhältnis Honeckers zur sowjetischen Parteiführung von Anfang an,
- seine Sehnsucht nach der Einheit Deutschlands in einer antiimperialistischen Welt,
- Honeckers persönliche Verarbeitung der Ereignisse nach seinem Rücktritt,
- die Rolle Margot Honeckers in der Politik und im Leben ihres Mannes,
- die Periode der Hetze und Verleumdung gegen die politischen Verantwortungsträger 1989/90 und die heute inzwischen differenziertere Wertung durch die ehemaligen DDR-Bürger,
- die politischen, ökonomischen und psychologischen Folgen der Angliederung des Gebietes der ehemaligen DDR an das alte Bundesgebiet für die Menschen in den neuen Bundesländern.

Wir erfahren aus Anderts Buch etwas über charakterschwache Persönlichkeiten, die ihre hohe Position kaltschnäuzig zum eigenen Vorteil ausgenutzt haben; aber wir lesen auch von der Tragik jener alten und jungen Kader in der SED-Führung, die immer einfach und bescheiden geblieben sind und die subjektiv überzeugt waren, mit ihrem Einsatz dem Sozialismus und dem Volk zu dienen, ohne wirklich erkennen zu können, daß sie ihm objektiv Schaden zufügten.
Und wir erfahren auch, daß Erich Honecker vor allen detaillierten Berichten an das Ministerium für Staatssicherheit über Mängel und Unzulänglichkeiten des DDR-Alltags, über die Versorgungsengpässe und die Rechtsbrüche durch Behörden, die Behinderung der Demokratie und die maßlose geheimdienstliche Überwachung von Bürgern und über die wachsende Unzufriedenheit der Menschen stets konsequent und sicher abgeschirmt wurde. Und weil tatsächlich nichts von den wirklichen Stimmungen in großen Teilen der Bevölkerung bis zu Honecker hatte vordringen dürfen und können, glaubt Andert - zurecht, wie ich meine - dem ehemals mächtigsten Mann im Staate auch, wenn dieser sagt, daß ihn die "Gorbi, Gorbi!"-Rufe der FDJ am 7. Oktober 1989 zutiefst erschüttertet hätten.
Ein seitenlanges Zitat aus einer anderen Veröffentlichung hätte ich mir etwas kürzer und an seiner Stelle eigene Aussagen des Verfassers gewünscht. Aber die hohe Brisanz des Zitierten hat mich dann doch auch wieder mit seiner Länge ein wenig versöhnt.
Im Unterschied zu anderen in letzter Zeit erschienenen tendenziösen bis diskriminierenden Honecker-Biographien und DDR-Geschichtsdarstellungen halte ich Reinhold Anderts Buch für einen ehrlichen und gelungenen Beitrag zu dem Bemühen, die Menschen in Ost und West mit ihren unterschiedlichen Lebensläufen durch ein besseres Verständnis dafür, was die DDR für die Mehrheit ihrer Bürger wirklich war und weshalb sie scheitern mußte, näher zusammenzuführen.
Fazit
Diese zweihundertfünf Seiten haben mich gefesselt, und ich möchte ihre Lektüre jedem interessierten Deutschen in West und Ost sehr ans Herz legen!
8 Sterne8 Sterne8 Sterne8 Sterne8 Sterne8 Sterne8 Sterne8 Sterne8 Sterne8 Sterne

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Vorgeschlagen von Eberhard E. Küttner [Profil]
veröffentlicht am 27. November 2002

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