Nachdem ich das 1990 von Reinhold Andert und Wolfgang Herzberg im Aufbau-Verlag
Berlin herausgegebene Buch "Der Sturz. Honecker im Kreuzverhör" mit
großem Interesse gelesen hatte, war ich sehr gespannt auf die Fortsetzung
"Nach dem Sturz. Gespräche mit Erich Honecker. Aufgezeichnet von Reinhold
Andert". Und meine positive Erwartung wurde nicht enttäuscht.
Der Autor gibt in Zusammenfassungen von Gesprächen mit dem letzten
Staatsoberhaupt der DDR in intimer Atmosphäre wieder, wie Honecker sich als
heimatloser Privatmann in seinen letzten Jahren zu Fragen aus der Geschichte der
DDR sowie zu deren Ende und der Zeit danach geäußert hat. Diese Aussagen
bettet Andert ein in eigene Erinnerungen, Reflexionen und Tatsachenberichte, so
daß ein abgerundetes Bild von einer ganzen Epoche und vom Scheitern eines
gesellschaftspolitischen Jahrhundertversuchs entsteht. Die Art, wie er das tut,
läßt sein ehrliches Bemühen erkennen, möglichst frei zu bleiben von
erkenntnisbehindernden Vorurteilen. Er führt lediglich Sachverhalte vor Augen,
das Bewerten überläßt er weitgehend dem Leser. Diese Autorenhaltung finde ich
besonders bemerkenswert, da sie bei der Darstellung der DDR und ihrer
Repräsentanten leider nicht häufig zu finden ist; die meisten Arbeiten, die
seit 1990 zu diesem Thema veröffentlicht wurden, sind mehr oder weniger von
einer - politisch bedingten - Voreingenommenheit der Autoren geprägt und
kranken demzufolge an einer einseitigen und mit der historischen Wahrheit sehr
großzügig umgehenden Betrachtungsweise.
Reinhold Andert, Jahrgang 1944, vor allem bekannt als Liedermacher, der 1980 aus
der SED ausgeschlossen worden war, kennt die Vorzüge und die Schwächen des
DDR-Sozialismus aus eigener Erfahrung, und er vermag sie in der Rückschau
objektiv zu sehen. Er nennt Unrecht Unrecht (soweit es auch damals schon Unrecht
war!), aber er verabsolutiert es nicht, wie es sonst das gedankenlose Reden vom
"Unrechtsstaat" bis heute immer wieder tut. In der
einfühlsam-subtilen Sprache eines verantwortungsbewußten Menschen, der mit dem
Wort souverän umzugehen weiß, legt er tiefere Ursachen und Zusammenhänge
frei, die sich bei allzu vereinfachender Sicht nicht erschließen lassen.
Andert ist sich offensichtlich der Tatsache bewußt, daß es zwei völlig
verschiedene Dinge sind, eine Sache zu verstehen und sie zu billigen. Er
beschönigt nichts, aber er unterliegt auch an keiner Stelle der Gefahr einer
Pauschalverurteilung, die nicht nach den Quellen für bestimmte
Fehlentwicklungen fragt. So erklärt er beispielsweise, durch welche historisch,
politisch und psychosozial nachvollziehbaren Gründe die "Abschottung"
der Mitglieder des Politbüros in Wandlitz ursprünglich zustande gekommen war
und weshalb sie auch später noch ohne Not beibehalten worden ist. Trotzdem aber
sieht er dieses verhängnisvolle Phänomen durchaus mit dem nötigen kritischen
Abstand. Er beschreibt detailliert das Leben in dieser Siedlung und schildert
sehr differenziert das unterschiedliche Verhalten einzelner Politbüromitglieder
sowie ihren Umgang miteinander und mit dem Dienstpersonal, und er enthält sich
dabei jeglicher plumper Verallgemeinerungen. Nirgendwo ist auch nur der leiseste
Anflug zu spüren von Sensationshascherei und Enthüllungs-Journalismus. Es
werden solche Themen berührt wie:
- das Politbüro der SED und seine Mitglieder,
- die Beziehung zwischen Honecker und Mielke,
- das gestörte Verhältnis Honeckers zur sowjetischen Parteiführung von Anfang
an,
- seine Sehnsucht nach der Einheit Deutschlands in einer antiimperialistischen
Welt,
- Honeckers persönliche Verarbeitung der Ereignisse nach seinem Rücktritt,
- die Rolle Margot Honeckers in der Politik und im Leben ihres Mannes,
- die Periode der Hetze und Verleumdung gegen die politischen
Verantwortungsträger 1989/90 und die heute inzwischen differenziertere Wertung
durch die ehemaligen DDR-Bürger,
- die politischen, ökonomischen und psychologischen Folgen der Angliederung des
Gebietes der ehemaligen DDR an das alte Bundesgebiet für die Menschen in den
neuen Bundesländern.
Wir erfahren aus Anderts Buch etwas über charakterschwache Persönlichkeiten,
die ihre hohe Position kaltschnäuzig zum eigenen Vorteil ausgenutzt haben; aber
wir lesen auch von der Tragik jener alten und jungen Kader in der SED-Führung,
die immer einfach und bescheiden geblieben sind und die subjektiv überzeugt
waren, mit ihrem Einsatz dem Sozialismus und dem Volk zu dienen, ohne wirklich
erkennen zu können, daß sie ihm objektiv Schaden zufügten.
Und wir erfahren auch, daß Erich Honecker vor allen detaillierten Berichten an
das Ministerium für Staatssicherheit über Mängel und Unzulänglichkeiten des
DDR-Alltags, über die Versorgungsengpässe und die Rechtsbrüche durch
Behörden, die Behinderung der Demokratie und die maßlose geheimdienstliche
Überwachung von Bürgern und über die wachsende Unzufriedenheit der Menschen
stets konsequent und sicher abgeschirmt wurde. Und weil tatsächlich nichts von
den wirklichen Stimmungen in großen Teilen der Bevölkerung bis zu Honecker
hatte vordringen dürfen und können, glaubt Andert - zurecht, wie ich meine -
dem ehemals mächtigsten Mann im Staate auch, wenn dieser sagt, daß ihn die
"Gorbi, Gorbi!"-Rufe der FDJ am 7. Oktober 1989 zutiefst
erschüttertet hätten.
Ein seitenlanges Zitat aus einer anderen Veröffentlichung hätte ich mir etwas
kürzer und an seiner Stelle eigene Aussagen des Verfassers gewünscht. Aber die
hohe Brisanz des Zitierten hat mich dann doch auch wieder mit seiner Länge ein
wenig versöhnt.
Im Unterschied zu anderen in letzter Zeit erschienenen tendenziösen bis
diskriminierenden Honecker-Biographien und DDR-Geschichtsdarstellungen halte ich
Reinhold Anderts Buch für einen ehrlichen und gelungenen Beitrag zu dem
Bemühen, die Menschen in Ost und West mit ihren unterschiedlichen Lebensläufen
durch ein besseres Verständnis dafür, was die DDR für die Mehrheit ihrer
Bürger wirklich war und weshalb sie scheitern mußte, näher zusammenzuführen.
Fazit
Diese zweihundertfünf Seiten haben mich gefesselt, und ich möchte ihre
Lektüre jedem interessierten Deutschen in West und Ost sehr ans Herz legen!
Vorgeschlagen von Eberhard E. Küttner
[Profil]
veröffentlicht am 27. November 2002 2002-11-27 00:00:01