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Sherwin B. Nuland: Wie wir sterben. Ein Ende in Würden?

Wie wir sterben. Ein Ende in Würden?

von Sherwin B. Nuland
Verlag: Kindler Verlag [mehr Bücher von diesem Verlag zeigen]
Sparte: Sachbuch
ISBN-13 978-3-463-40211-6

Preis: 3,30 Euro bei Amazon.de [Stand: 22. Dezember 2024]
Wenngleich in den letzten Jahren erfreulicherweise der Tod als natürlicher Bestandteil des Lebens allmählich mehr ins öffentliche Bewußtsein rückt, wird doch die Art, wie wir sterben, immer noch weitgehend tabuisiert. Wer nicht gerade wie ich beruflich von dieser Thematik tangiert wird, muß nach dem, was er über populärwissenschaftlich informierende Medien und hauptsächlich über (vor allem weniger anspruchsvolle) Spielfilme erfährt, sehr realitätsferne Vorstellungen von den vielgestaltigen Abläufen des Sterbeprozesses haben.
Umso mehr begrüße ich die Veröffentlichung des Buches "Wie wir sterben. Ein Ende in Würde?", geschrieben von dem US-amerikanischen Chirurgen und Medizinhistoriker Sherwin B. Nuland, das in seiner ersten deutschsprachigen Übersetzung 1994 im Kindler Verlag München herausgekommen ist.
Auf 400 Seiten (mit detailliertem Stichwortverzeichnis) gibt Nuland sehr ausführlich und in einer für den Nicht-Mediziner gut verständlichen Sprache detaillierte Antworten auf die Frage, wie der Vorgang des Sterbens verlaufen kann. Er zeigt dies exemplarisch an den sechs häufigsten Krankheitsbildern, die zum Tode führen: Herzversagen, Krebs, AIDS, Alzheimersche Krankheit, gewaltsame Tötung (durch fremde und eigene Hand) und Alterstod. Er zeigt dem Leser,
- wie (im Prinzip) gleich und wie (im Einzelfall) unterschiedlich diese verschiedenen Symptome beharrlich und unbeirrt ihr zerstörerisches Werk betreiben, bis der Organismus nicht mehr lebensfähig ist;
- welche (zunächst an sich harmlose) biologische Veränderung oder physiologische Funktionsstörung zu welchen weiteren (immer weniger harmlosen) Folgeschäden führt und wie dieser Teufelskreis des im Körper um sich greifenden Chaos sich dem Menschen bemerkbar macht;
- wie machtlos die Medizin auch heute noch ist, dieser einmal ins Rollen gekommenen Lawine wirksam Halt zu gebieten, und daß der Arzt diese Grenze der Möglichkeiten - die ihm rational durchaus bewußt ist - irgendwann auch emotional akzeptieren und eine mitmenschliche Begleitung des Sterbenden an die Stelle der letztendlich objektiv erfolglosen Bemühungen zur Verlängerung eines nicht mehr rettbaren Lebens setzen muß.

Sehr beeindruckend finde ich die Darstellung, daß auch ohne Krankheit der Tod Endpunkt eines bereits im frühen Embryonalstadium beginnenden Alterungsprozesses ist, der, weil er einer biologischen Gesetzmäßigkeit folgt, objektiv nicht aufgehalten werden kann. Demzufolge seien, so Nuland, solche Symptome wie Arteriosklerose, Bluthochdruck, Altersdiabetes, Fettleibigkeit, Verwirrtheit, Krebs und Immunschwäche u.a. zwar die konkreten Anlässe, nicht aber die eigentliche Ursache des Todes: die Altersschwäche. Der Autor zieht daraus die Schlußfolgerung, daß die Ärzte sich mit den Grenzen der Natur abfinden müßten und nicht ihren Berufsehrgeiz dafür einsetzen sollten, das Leben sterbenskranker alter Menschen bis über diese natürliche Grenze hinaus um jeden Preis ausdehnen zu wollen.
Als einen Kernsatz habe ich meinem Exemplar von Nulands Buch dick rot unterstrichen: "Am Ende des Lebens steht der Tod und nicht der Versuch, das Sterben zu verhindern. Der atemberaubende Fortschritt der Wissenschaft in unserem Jahrhundert hat dazu geführt, daß unsere Gesellschaft hier falsche Akzente setzt. Der Sterbende muß im Drama des Todes als Hauptfigur wieder in den Mittelpunkt rücken." (S. 376)
Bei aller prinzipiellen Zustimmung zu diesem Standpunkt sehe ich aber auch eine große Gefahr in ihrer möglichen logischen Konsequenz. Wenn Nuland z.B. den Sinn krebsbedingter Totaloperationen oder gar von Dialysebehandlungen für Hochbetagte ernsthaft in Frage stellt, dann könnte sich in der Zukunft eine zahlungsunfähig gewordene gesetzliche Krankenversicherung auf solche Überlegungen berufen, wenn sie (wie in Großbritannien heute schon Realität) alten Menschen ohne Vermögen aus Kostenersparnisgründen lebenswichtige Therapieformen vorenthalten und sie damit zum vorzeitigen Tod verurteilen will!
Ebenso teile ich nicht Nulands befürwortende Haltung gegenüber der aktiven Euthanasie und seine abwertende Ansicht zur Selbsttötung, die sich nach meiner Überzeugung jeglicher moralischer Bewertung entzieht.
Der Verfasser führt den Leser zu der ernüchternden Erkenntnis, daß trotz bester Absicht ein Sterben in Würde nur in seltenen Einzelfällen erreichbar ist: Den meisten von uns wird ein Ende ohne die spürbaren Merkmale einer auch heute noch unbeeinflußbar grausamen biologischen und klinischen Realität versagt sein.
Diese schonungslose Darstellung der Wirklichkeit habe ich aber nicht als Horrorszenario empfunden, sondern
- es hilft mir dabei, von idealisierten Sterbensvorstellungen Abschied zu nehmen;
- es erleichtert mir die Erfüllung meines Anliegens, beim medizinischen Personal für die notwendige Prioritätsverschiebung zugunsten der mitmenschlichen Zuwendung zu Sterbenden zu werben;
- und es verstärkt meinen Wunsch, die mir verbleibende kostbare Zeit möglichst sinnerfüllt zu leben.

Die Sprache Nulands ist trotz der Härte der dargestellten Realität einfühlsam bis ehrfürchtig; jene Rigorosität im Ausdruck mancher Mediziner, die tagtäglich mit dem Sterben konfrontiert sind, ist ihm erfreulicherweise nicht anzumerken.
Fazit
Dieses Buch ist mir nicht nur eine wertvolle Grundlage für meine Arbeit geworden, sondern hat auch mein Verhältnis zum Sterben nachhaltig beeinflußt. Bei aller Widersprüchlichkeit überwiegt sein informierender, aufklärender und (im positiven Sinne) bewußtseinsverändernder Wert. Ich möchte es jedem kritischen Leser empfehlen, der die - unbedingt auch kontrovers zu führende - Auseinandersetzung mit den behandelten Themen nicht scheut. Die meisten von uns beschäftigen sich ohnehin zu wenig mit den wirklich wichtigen Fragen des Lebens, wie ich immer wieder bedauernd feststelle.
8 Sterne8 Sterne8 Sterne8 Sterne8 Sterne8 Sterne8 Sterne8 Sterne8 Sterne8 Sterne

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Vorgeschlagen von Eberhard E. Küttner [Profil]
veröffentlicht am 27. November 2002

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