Wenngleich in den letzten Jahren erfreulicherweise der Tod als natürlicher
Bestandteil des Lebens allmählich mehr ins öffentliche Bewußtsein rückt,
wird doch die Art, wie wir sterben, immer noch weitgehend tabuisiert. Wer nicht
gerade wie ich beruflich von dieser Thematik tangiert wird, muß nach dem, was
er über populärwissenschaftlich informierende Medien und hauptsächlich über
(vor allem weniger anspruchsvolle) Spielfilme erfährt, sehr realitätsferne
Vorstellungen von den vielgestaltigen Abläufen des Sterbeprozesses haben.
Umso mehr begrüße ich die Veröffentlichung des Buches "Wie wir sterben.
Ein Ende in Würde?", geschrieben von dem US-amerikanischen Chirurgen und
Medizinhistoriker Sherwin B. Nuland, das in seiner ersten deutschsprachigen
Übersetzung 1994 im Kindler Verlag München herausgekommen ist.
Auf 400 Seiten (mit detailliertem Stichwortverzeichnis) gibt Nuland sehr
ausführlich und in einer für den Nicht-Mediziner gut verständlichen Sprache
detaillierte Antworten auf die Frage, wie der Vorgang des Sterbens verlaufen
kann. Er zeigt dies exemplarisch an den sechs häufigsten Krankheitsbildern, die
zum Tode führen: Herzversagen, Krebs, AIDS, Alzheimersche Krankheit, gewaltsame
Tötung (durch fremde und eigene Hand) und Alterstod. Er zeigt dem Leser,
- wie (im Prinzip) gleich und wie (im Einzelfall) unterschiedlich diese
verschiedenen Symptome beharrlich und unbeirrt ihr zerstörerisches Werk
betreiben, bis der Organismus nicht mehr lebensfähig ist;
- welche (zunächst an sich harmlose) biologische Veränderung oder
physiologische Funktionsstörung zu welchen weiteren (immer weniger harmlosen)
Folgeschäden führt und wie dieser Teufelskreis des im Körper um sich
greifenden Chaos sich dem Menschen bemerkbar macht;
- wie machtlos die Medizin auch heute noch ist, dieser einmal ins Rollen
gekommenen Lawine wirksam Halt zu gebieten, und daß der Arzt diese Grenze der
Möglichkeiten - die ihm rational durchaus bewußt ist - irgendwann auch
emotional akzeptieren und eine mitmenschliche Begleitung des Sterbenden an die
Stelle der letztendlich objektiv erfolglosen Bemühungen zur Verlängerung eines
nicht mehr rettbaren Lebens setzen muß.
Sehr beeindruckend finde ich die Darstellung, daß auch ohne Krankheit der Tod
Endpunkt eines bereits im frühen Embryonalstadium beginnenden
Alterungsprozesses ist, der, weil er einer biologischen Gesetzmäßigkeit folgt,
objektiv nicht aufgehalten werden kann. Demzufolge seien, so Nuland, solche
Symptome wie Arteriosklerose, Bluthochdruck, Altersdiabetes, Fettleibigkeit,
Verwirrtheit, Krebs und Immunschwäche u.a. zwar die konkreten Anlässe, nicht
aber die eigentliche Ursache des Todes: die Altersschwäche. Der Autor zieht
daraus die Schlußfolgerung, daß die Ärzte sich mit den Grenzen der Natur
abfinden müßten und nicht ihren Berufsehrgeiz dafür einsetzen sollten, das
Leben sterbenskranker alter Menschen bis über diese natürliche Grenze hinaus
um jeden Preis ausdehnen zu wollen.
Als einen Kernsatz habe ich meinem Exemplar von Nulands Buch dick rot
unterstrichen: "Am Ende des Lebens steht der Tod und nicht der Versuch, das
Sterben zu verhindern. Der atemberaubende Fortschritt der Wissenschaft in
unserem Jahrhundert hat dazu geführt, daß unsere Gesellschaft hier falsche
Akzente setzt. Der Sterbende muß im Drama des Todes als Hauptfigur wieder in
den Mittelpunkt rücken." (S. 376)
Bei aller prinzipiellen Zustimmung zu diesem Standpunkt sehe ich aber auch eine
große Gefahr in ihrer möglichen logischen Konsequenz. Wenn Nuland z.B. den
Sinn krebsbedingter Totaloperationen oder gar von Dialysebehandlungen für
Hochbetagte ernsthaft in Frage stellt, dann könnte sich in der Zukunft eine
zahlungsunfähig gewordene gesetzliche Krankenversicherung auf solche
Überlegungen berufen, wenn sie (wie in Großbritannien heute schon Realität)
alten Menschen ohne Vermögen aus Kostenersparnisgründen lebenswichtige
Therapieformen vorenthalten und sie damit zum vorzeitigen Tod verurteilen
will!
Ebenso teile ich nicht Nulands befürwortende Haltung gegenüber der aktiven
Euthanasie und seine abwertende Ansicht zur Selbsttötung, die sich nach meiner
Überzeugung jeglicher moralischer Bewertung entzieht.
Der Verfasser führt den Leser zu der ernüchternden Erkenntnis, daß trotz
bester Absicht ein Sterben in Würde nur in seltenen Einzelfällen erreichbar
ist: Den meisten von uns wird ein Ende ohne die spürbaren Merkmale einer auch
heute noch unbeeinflußbar grausamen biologischen und klinischen Realität
versagt sein.
Diese schonungslose Darstellung der Wirklichkeit habe ich aber nicht als
Horrorszenario empfunden, sondern
- es hilft mir dabei, von idealisierten Sterbensvorstellungen Abschied zu
nehmen;
- es erleichtert mir die Erfüllung meines Anliegens, beim medizinischen
Personal für die notwendige Prioritätsverschiebung zugunsten der
mitmenschlichen Zuwendung zu Sterbenden zu werben;
- und es verstärkt meinen Wunsch, die mir verbleibende kostbare Zeit möglichst
sinnerfüllt zu leben.
Die Sprache Nulands ist trotz der Härte der dargestellten Realität einfühlsam
bis ehrfürchtig; jene Rigorosität im Ausdruck mancher Mediziner, die
tagtäglich mit dem Sterben konfrontiert sind, ist ihm erfreulicherweise nicht
anzumerken.
Fazit
Dieses Buch ist mir nicht nur eine wertvolle Grundlage für meine Arbeit
geworden, sondern hat auch mein Verhältnis zum Sterben nachhaltig beeinflußt.
Bei aller Widersprüchlichkeit überwiegt sein informierender, aufklärender und
(im positiven Sinne) bewußtseinsverändernder Wert. Ich möchte es jedem
kritischen Leser empfehlen, der die - unbedingt auch kontrovers zu führende -
Auseinandersetzung mit den behandelten Themen nicht scheut. Die meisten von uns
beschäftigen sich ohnehin zu wenig mit den wirklich wichtigen Fragen des
Lebens, wie ich immer wieder bedauernd feststelle.
Vorgeschlagen von Eberhard E. Küttner
[Profil]
veröffentlicht am 27. November 2002 2002-11-27 00:00:01