Am 2. September 1997 verstarb im Alter von 92 Jahren in Wien eine der für mich
beeindruckendsten Persönlichkeiten, die ich kenne: der große, gütige und
weise Viktor Emil Frankl, der auf allen Kontinenten berühmte österreichische
Arzt, Professor für Neurologie und Psychiatrie sowie Professor der von ihm
begründeten Wissenschaft Logopädie. Unter seinem Werk von über dreißig
Fachbüchern, übersetzt in alle wichtigen Sprachen der Erde, ist dieses kleine
Bändchen äußerlich vergleichsweise unscheinbar, und dennoch gehört es, wie
das Zitat auf der vierten Umschlagseite aussagt, "zum kostbaren Erbe jener
säkulären Literatur, in der die Grundwahrheiten unseres Jahrhunderts manifest
werden" (deutschland-berichte).
Das Buch will kein objektiver Tatsachenbericht über das Leben in
Konzentrationslagern des deutschen Faschismus sein, sondern eine subjektive
Erlebnisschilderung aus der Sicht eines Häftlings, der das Erfahrene zudem mit
den Augen und dem Verstand eines Psychologen betrachtet und zu erklären
versucht. Frankl beleuchtet Ereignisse und Situationen sowie Vorgänge und
Verhaltensweisen auf seiten der Inhaftierten wie der SS-Offiziere im KZ-Alltag
von der Einlieferung bis zur Befreiung und versucht hier und da psychologische
Deutungen. Dabei kommt er unter anderem zu der Feststellung, daß mit der
Kennzeichnung einer Person entweder als Angehörigen der SS oder als
Lagerhäftling noch kein Urteil über ihn gefällt werden könne. "Menschliche
Güte kann man bei allen Menschen finden, sie findet sich also auch bei der
Gruppe, deren pauschale Verurteilung doch gewiß sehr nahe liegt. [...] So
einfach dürfen wir es uns nicht machen, daß wir erklären: die einen sind die
Engel und die andern sind Teufel." (S. 137) Damit spricht er etwas aus, das ich
schon immer so empfunden habe. Grundsätzlich lehnt er eine Pauschalverurteilung
ab und die Existenz einer "Kollektivschuld".
Er beschreibt sachlich und emotionslos - aber gerade dadurch sehr eindrucksvoll
und berührend - in der "ersten Phase" die Ankunft im Bahnhof Auschwitz, die
Aufnahme im Lager mit der ersten Selektion, die Desinfektion und die ersten
Reaktionen der Mitgefangenen vom Zerrinnen der Illusionen über den Galgenhumor
bis hin zur Neugier. Er setzt sich auseinander mit der Selbsttötung, in der vom
ersten Tag an von vielen der einzige Ausweg gesehen wurde. Gleich am ersten
Abend hatte Frankl sich selbst das Versprechen abgenommen, nicht "in den Draht
zu laufen" (womit die Häftlinge das Berühren des mit elektrischer Hochspannung
geladenen Stacheldrahtes meinten), und selbst in der schlimmsten Verzweiflung
hat er an diesem Vorsatz festgehalten - in dem Wissen, daß auch unter diesen
Umständen sein Leben sinnvoll ist.
Als typisch für die "zweite Phase" des Lagerlebens bezeichnet der Autor die
Apathie und die Abstumpfung des Gemüts bis hin zur Gleichgültigkeit. Der Tod
von Mitgefangenen löste bald kaum noch Gefühlsreaktionen aus. Was dennoch als
das Schmerzlichste empfunden wurde, waren nach Mißhandlungen nicht der
körperliche Schmerz, sondern der Hohn und der Haß, der sie begleitete, die
entmenschte Grausamkeit, der sie entsprangen. Bedingt durch die unter der
seelischen Zwangslage des Lagerlebens entstehende Regression, den Rückzug auf
eine primitive Form der Emotionalität, spielten in den nächtlichen Träumen
der Häftlinge vor allem Brot und Torten und Zigaretten und ein warmes Wannebad
die Hauptrolle. Der Hunger und die Gedanken ans Essen bildeten das
Haupt-Gesprächsthema, dagegen schwieg unter den Bedingungen der Unterernährung
der Sexualtrieb. Die Themen Politik und Kultur rückten zugunsten des
religiösen Interesses, das als Ausdruck der inneren (in Ermangelung der
äußeren) Freiheit viel Raum im Denken einnahm, in den Hintergrund.
"Die geistige Freiheit des Menschen, die man ihm bis zum letzten Atemzug nicht
nehmen kann, läßt ihn auch noch bis zum letzten Atemzug Gelegenheit finden,
sein Leben sinnvoll zu gestalten. [...] Wenn Leben überhaupt einen Sinn hat,
dann muß auch Leiden einen Sinn haben." (S. 109 f.)
Allgemein zu beobachten war die Flucht nach innen und damit auch in die
Transzendenz, die Meditation, die Selbstgespräche und die Sehnsucht nach
Einsamkeit, einem Zustand, der fast nicht existierte. Beeindruckend war für
mich, daß es auch künstlerische Aktivitäten im KZ gab in Form von
Kabarettveranstaltungen, Lyrikabenden, Musikaufführungen, an denen SS-Leute als
Zuschauer teilnahmen; und erstaunlich tönte für mich, daß neben dem
Kunsterleben sogar Humor seinen Platz hatte - als eine Waffe der Seele im Kampf
um ihre Selbsterhaltung.
Die psychologische Besonderheit der "dritten Phase", nämlich der nach der
Befreiung des Lagers (Frankls vierten!), bestand darin, daß der seelischen
Hochspannung plötzlich die totale innere Entspannung folgte - mit dem Ergebnis
einer ausgeprägten Depersonalisation, in der zunächst alles als irreal,
unwahrscheinlich, traumhaft erlebt wurde, so daß man sich über die jahrelang
ersehnte Freiheit nicht mehr freuen konnte und nicht mehr zurechtkam mit ihr.
Diese Enttäuschung gehörte mit zu den seelischen Spätfolgen des geschehenen
Unrechts.
Fazit
Seit ich diesen 1946 geschriebenen Bericht "... trotzdem Ja zum Leben sagen. Ein
Psychologe erlebt das Konzentrationslager" kenne, gehört er zu den kostbarsten
Schriften, die ich besitze. Er hat mich zutiefst bewegt sowie emotional und
intellektuell bereichert, und es hat mich in meiner Weltanschauung bestärkt.
Was mir besonders zusagt: Es ist kein Buch der Anklage und des Hasses, sondern
des Verständnisses menschlicher Schwäche und Begrenztheit und des Glaubens an
den Sinn des Lebens, der selbst in der furchtbarsten Existenzbedrohung vorhanden
ist. Obzwar Frankl Mutter, Vater und Ehefrau in Konzentrationslagern verloren
hat, liegt seinem Fühlen und Denken jegliche Bitterkeit fern. Im Rückblick auf
die qualvollen Jahre, die hinter ihm lagen, als er dieses Buch schrieb - ebenso
wie bis zu seinem Tode -, überwiegt in seinem Urteilen, das an keiner Stelle
ein Ver-Urteilen ist, eine dem Wesen des Menschen gerecht werdende ganzheitliche
Betrachtungsweise, in der die einzigartige Kostbarkeit des Individuums ebenso
Berücksichtigung findet wie die in uns allen angelegte Neigung, schuldig zu
werden. Dieses Verständnis, das keine Rechtfertigung ist, schließt für Frankl
Vergeltung aus, denn niemand hat nach seiner Überzeugung das Recht, "Unrecht zu
tun, auch der nicht, der Unrecht erlitten hat" (S. 145).
Dieses zutiefst humanistische und lebensfreundliche Buch möchte ich
Leser(inne)n jeden Alters ans Herz legen, die nach dem Verständnis des Menschen
fragen, die nach Humanismus dürstet und die nach dem Sinn des Lebens suchen.
Das Buch macht Hoffnung und ermutigt zum Leben - auch in Grenzsituationen.
Vorgeschlagen von Eberhard E. Küttner
[Profil]
veröffentlicht am 27. November 2002 2002-11-27 00:00:01