Der 30-jährige Wiggo Ritter ist zum Opfer des Nachtwachen-Drachen geworden:
mit schweren Verbrennungen liegt er in der Berliner Charité. Sein Blick ist
auf Baukräne gerichtet, sein Leben auf Arztvisiten und Verbandswechsel
reduziert. In Rückblenden, Gesprächen mit Wiggos Verteidiger und
schriftlichen Zeugenaussagen der Freunde Patrick und Jost entsteht Wiggos
Geschichte und die seiner Verletzungen.
Sein Vater, der Bankier Stefan Ritter, hält die Zwillinge Wiggo und Dorothea
für Vertreter einer Generation schlaffer Säcke. Er ist überzeugt, dass die
verwöhnten Nesthocker nur dann etwas schaffen werden, wenn die ältere
Generation ihnen den Weg frei schaufelt. Der Familientyrann kann es nicht
lassen, seine Kinder und Mitarbeiter vor anderen zu demütigen, sich ständig
einzumischen. Als Kind eines dominanten Erfolgsmenschen kann man sich dem Druck
nur als Schreinermeister oder Binnenschiffer entziehen.
Wiggo studiert erfolgreich Philosophie und will als selbständiger beratender
Philosoph arbeiten. Doch er muss einsehen, dass er philosophische
Grundsatzdiskussionen nur Frauen aufzwingen kann; Männer fragen eher, womit er
denn nun sein Geld verdient.
Durch Kaltmeister senior lernt Wiggo Mauritz und Manuela kennen, die in einer
verstaubten Welt der Freitreppen und Chauffeure leben. Er findet sich in einer
rechts-terroristischen Vereinigung mit merkwürdigem Elite-Verständnis. Die
Gruppe ist entschlossen die Demokratie zu beseitigen und damit die Herrschaft
des Mittelmaßes. Die Familie Kaltmeister besitzt das Gemälde eines Eisvogels,
in den Alkyone von Zeus verwandelt wurde.
Tellkamps Roman spielt im wiedervereinigten Berlin zur Zeit der gerade
geplatzten Internet-Blase. Die "Generation Aktien-Portofolio" begreift
den Ernst der Lage erst langsam, während sie artig auf Partys im In- und
Ausland parliert. Die Schilderung aktueller wirtschaftlicher Trends gerät an
die Grenze zum Produkt-Placement. "Der Eisvogel" wird als das Buch in
die Literatur eingehen, das die interkulturelle Ignoranz von
Spachtelmasse-Fabrikanten gesellschaftsfähig machte.
Der Bachmann-Preisträger des Jahres 2004 reiht Schachtelsätze zu emotionslosen
Schilderungen aneinander und besticht durch äußerst präzise Beschreibungen.
Als gelernter Mediziner nimmt er gekonnt die Perspektive des Patienten ein:
Wiggo kommuniziert mit einem Paar Augen und einer Nasenwurzel oberhalb eines
Mundschutzes.
Fazit
Der strahlend blaue Eisvogel taucht überraschend auf, taucht ein, jagt seine
Beute und verschwindet ebenso schnell wieder. Die Schilderung der
konfliktreichen Beziehungen in Tellkamps Buch ist weniger farbenfreudig, sie
bleibt grau. Statt sich auf die Beziehung zu Mauritz und Manuela zu
konzentrieren und die Faszination durch die seltsame Organisation, mäandert die
Handlung zwischen Südfrankreich, London und New York herum. Lesenswert.
Vorgeschlagen von Helga Buss
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veröffentlicht am 10. April 2005 2005-04-10 13:26:06