Götz Aly interpretiert den Holocaust als Massenraubmord, der es den
nationalsozialistischen Machthabern ermöglicht habe, soziale Wohltaten unter
das Volk zu mischen. Nun werden in diesem Buch zweifellos wichtige neue
Aktenfunde dargestellt, die belegen, dass sich die sozialen Wohltaten, die
Hitlers Wirtschaftspolitik der Bevölkerung brachte und die von Aly in seinem
Werk detailliert aufgezählt werden mit der Folge, dass sie dem Regime die ihm
die große Loyalität der Massen sicherten (vgl. hierzu auch die Publikationen
von Haffner oder Kershaw, die Hitlers Popularität im Dritten Reich belegten)
sich nur durch die rücksichtslose Ausplünderung der eroberten Länder
realisieren ließ.
Nun ist dies alles nicht neu. Tim Mason hat sich in seiner Studie:
"Sozialpolitik im Dritten Reich: Arbeiterklasse und Volksgemeinschaft"
von 1977 detailliert mit der Hitlerschen Sozialpolitik auseinandergesetzt. Eric
A. Johnson hat bereits im Jahre 2001 in seinem Werk: "Terror: Gestapo,
Juden und gewöhnliche Deutsche" gezeigt, dass die Nationalsozialisten
nicht in erster Linie durch Terror herrschten, sondern diesen selektiv
einsetzten. Der Terror richtete sich fast ausnahmslos gegen Juden und andere,
die als "unerwünscht" oder gar Feinde des Regimes betrachtet wurden.
Dass der Terror effektiv war, so Johnson, lag an der Kooperation und
freiwilligen Mitwirkung weiter Kreise der gewöhnlichen deutschen Bevölkerung,
die - so Johnson - kaum oder gar nicht unter dem nationalsozialistischen Terror
zu leiden hatten. "Dem Führer entgegenarbeiten" - so hat
Hitler-Biograph Ian Kershaw konsequenterweise die Haltung wichtiger Teile der
Bevölkerung und Eliten in seiner Hitler-Biographie zusammengefasst.
Also: die Thesen Alys sind nicht neu. Sicherlich sind seine Aktenfunde
dahingehend interessant, als sie bisherige Randfiguren des Dritten Reiches, wie
den Reichsfinanzminister Schwerin von Krosigk stärker als andere bisherige
Darstellungen in das allgemeine Blickfeld rücken.
Letztlich aber - und dies ist diesem Werk vorzuwerfen - wird die ideologische
Verblendung Hitlers vollkommen vernachlässigt. Die These, nicht der
Antisemitismus sei die entscheidende Triebkraft für den Holocaust, sondern das
Interesse der NS-Führung, durch soziale Wohltaten die Loyalität der
Bevölkerung zu erhalten, also durch diesen Antisemitismus und den Holocaust
"Wohltaten" verteilen zu können, um sich die Zustimmung der
Bevölkerung zu erkaufen, ist so schlicht falsch und blendet die ideologische
Verbohrtheit des Verbrechers Hitler schlicht aus. Bereits in "Mein
Kampf" hatte Hitler ja die Judenvernichtung und die Eroberung von
Lebensraum als seine politischen Ziele postuliert. Dass diese Ziele nicht
ernstgenommen wurden, die Geschichte des Nationalsozialismus die Geschichte
seiner Unterschätzung (Karl-Dietrich Bracher) gewesen ist, kommt in dieser
Studie nicht genug heraus. Sebastian Haffner hat in seiner - meiner Meinung nach
bis heute besten Studie über Hitler, seinen "Anmerkungen zu Hitler"
nachgewiesen, dass Hitler zwei Ziele hatte: die Eroberung von Lebensraum,
vermutlich auch die Weltherrschaft und die Vernichtung des Judentums. Als Hitler
1941 erkannte, dass er beide Ziele nicht erreichen konnte, entschied er sich,
das ihm wichtigere Ziel, die Vernichtung der Juden, voranzutreiben. Daher die
ganzen - zunächst unsinnigen - Haltebefehle. Er brauchte Zeit - zur Vernichtung
der Juden. Die Deutschen haben genau diese Judenvernichtung nicht gebilligt -
die Scheide - so Sebastian Haffner in seinem Werk: "Von Bismarck zu
Hitler" vollkommen zu recht - zwischen überzeugten Nationalsozialisten und
dem Rest der Bevölkerung, die den Nazis wohlwollend gegenüberstand, lag genau
in der Billigung bzw. Missbilligung der brutalen Massnahmen gegen die jüdische
Bevölkerung. Die Reaktion der Bevölkerung auf die sogenannte
"Reichskristallnacht" zeigt dies ganz deutlich. Hitler beschloss
daraufhin, die Judenvernichtung geheim zu halten. An diesem Gesamtbefund kann
auch die - von Goldhagen thematisierte - Judenfeindschaft zahlreicher Deutscher
- aber eben nicht aller Deutscher, basierend auf einer seit dem 19. Jahrhundert
sich radikalisierenden Judenfeindschaft, nichts ändern.
Es ist auf jeden Fall falsch, den Holocaust mit sozialen Wohltaten zu erklären.
Hitlers Popularität beruhte auf den in den "Friedensjahren" 1933-1938
von der Mehrheit der Bevölkerung wahrgenommen wirtschaftlichen
"Leistungen", wie Haffner dies zu recht betont hat (denn die
furchtbaren Folgen dieser "Leistungen" waren bis 1938 noch nicht für
die Mehrheit der Bevölkerung sichtbar). Es ist richtig, dass die expansive
Rüstungspolitik des Dritten Reiches zu einer wachsenden Staatsverschuldung
führte, die ohne Expansion und Eroberung nicht abzubauen war. Jedoch waren
hierfür nicht soziale Wohltaten, sondern Hitlers "Weltanschauung"
(Eberhard Jäckel) entscheidend. Das diese Binsenwahrheiten von Aly nicht betont
werden und das Motiv der materiellen Korrumpierung in der Darstellung als
einziges Motiv für Judenvernichtung und Holocaust benannt wird, ist einfach
falsch.
Das Buch wärmt die sogenannte "Kollektivschuldthese" erneut auf, wenn
wiederholt konstatiert wird, 95 Prozent aller Deutschen hätten vom
Massenraubmord profitiert. Da macht es sich Aly zu einfach. Schuld, Verstrickung
und Verantwortung waren differenzierter. Außerdem hat Richard Löwenthal zu
recht erklärt, dass in einem totalitären Regime, wie es das Dritte Reich
gewesen ist, Widerstand nur unter Lebensgefahr möglich war. Diesen Aspekt
vernachlässigt auch das oben angeführte Werk von Johnson.
Fazit
Meines Erachtens ist dies Werk ein Buch, welches über die wesentlichen
Erkenntnisse von Mason nicht hinausführt und sogar zur Irreführung der
Ursachen des Holocaust beiträgt - so hart fällt - zugegebermaßen - mein
Urteil über das - aus meiner Sicht zu unrecht hochgelobte - Werk von Götz Aly
aus.
Vorgeschlagen von Bernhard Nowak
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veröffentlicht am 15. März 2005 2005-03-15 07:19:19