Hans-Ulrich Wehler hat mit dem vierten Band seiner Deutschen
Gesellschaftsgeschichte ein wahres Meisterwerk vorgelegt. Es ist eine
unglaubliche Leistung, ein derartiges Projekt - vier Bände über die deutsche
Gesellschaftsgeschichte - zu wagen und mit Bravour zu bestehen. Denn es handelt
sich um ein wichtiges Standardwerk zur Deutschen Geschichte, ähnlich wie es
meines Wissens nur der britische Marxist Hobsbawm in seinem "Zeitalter der
Extreme" vorgelegt hat, in dessen Tradition Wehler steht.
Ich war in mehrerer Hinsicht positiv überrascht. Zum einen demonstriert Wehler
Lernfähigkeit. Gerade hier im 4. Band gibt er das "Primat der
Gesellschaft" auf, indem er - in Bezug auf das Dritte Reich - der
politischen Geschichte den Vorrang einräumt und Hitler im Sinne Max Webers und
in Anlehnung an
Ian
Kershaw als "charismatischen Führer" bezeichnet. Allerdings
erliegt er keine hitlerzentristischen Geschichtsschreibung, da Wehler immer
wieder die Wechselwirkung zwischen folgebereiter Gesellschaft und dem
charismatischen Führer belegt: "Zwar ist der Forschungsbefund "Nichts
ist so kontrovers wie die Deutung Hitlers" (L. Herbst) häufig wiederholt
worden. doch läßt sich, wenn man der Leitkonzeption der charismatischen
Herrschaft folgt, eine durch ihre Konsistenz und Erklärungskraft anderen
Deutungen überlegene Interpretation gewinnen, die sowohl der unbestreitbaren
Sonderrolle Hitlers als auch der inneren Verfassung der deutschen Gesellschaft
gerecht wird, indem sie beide dank ihrer "Wahlverwandschaft" (M.
Weber) aufeinander bezieht" (S. 598). In Anlehnung an den verstorbenen
Historiker Martin Broszat plädiert Wehler für eine "Historisierung des
Nationalsozialismus", in der der Nationalsozialismus nicht mehr als
Einbruch des Schrecklichen in eine unversehrte deutsche Lebenswelt verkannt
werde, sondern aus den inneren Zusammenhängen der neueren deutschen Geschichte
zu begreifen sei (S. 991). Die atemberaubende Erfolgsgeschichte Hitlers sei nur
aus den politischen Traditionen und mentalen Dispositionen, den
Machtverhältnissen und Elitenkoalitionen, den Verletzungen und Ressentiments
der modernen deutschen Geschichte zu verstehen. Charismatische Herrschaft,
wertneutral und nicht positiv zu verstehen, sei nicht möglich ohne eine den
Charismaträger unterstützenden Gesellschaft.
Dies alles wird von Wehler pointiert und überzeugend dargelegt, wobei Hitler in
der Tat als "starker Diktator" begriffen wird, der letzten Endes auch
die Verantwortung für die Judenvernichtung und den Holocaust trage, da sie
seinem rassistsichen Weltbild entspräche. Aufgrund seiner omnipotenten
Führerschaft habe Hitler ein Interprationsmonopol in diesen Fragen besessen (S.
655, Kapitel: Staatliche Rassenpolitik). Dies ist alles korrekt, wobei Wehler
dennoch zeigt, dass dieser Radikalantisemitismus durch die Reichsbevölkerung
passiv geduldet oder gar hämisch gebilligt worden sei.
Daniel Jonah Goldhagens Legende von
einem "Eliminatorischen Antisemistismus", der sich angeblich seit
Jahrhunderten in der deutschen Staatenwelt aufgestaut habe, weist Wehler -
zutreffend - zurück.
Es bleibt zu konstatieren, dass Wehlers Thesen korrekt sind, wenn sie auch nicht
in das Bild derjenigen Historiker passen, die die Rolle Hitlers als
"schwachen Diktator" einschätzen.
Wehler hat auch zahlreiche Thesen aus seinem ersten Buch über das deutsche
Kaiserreich relativiert. So steht er insbesondere der
"Sonderwegsthese" inzwischen kritischer gegenüber, was im Vorwort in
seiner Auseinandersetzung mit Heinrich August Winklers: "Der lange Weg nach
Westen" verdeutlicht wird (ich halte - im Gegensatz zu Wehler, Winklers
Buch jedoch ebenfalls für ein großartiges Geschichtswerk und teile Wehlers
Ansichten zu diesem Werk nicht). So entdeckt er an dem Kaiserreich, in welchem
im Vergleich zum Dritten Reich "Rechtssicherheit" vorgeherrscht habe,
auch positive Seiten, die man in seinem Erstling ganz und gar vermisst. Dies
zeigt jedoch die Lernfähigkeit Wehlers und die Bereitschaft, eigene Weltbilder
in Frage zu stellen.
Negativ ist anzumerken, dass es bisweilen - mir zu pauschale - Kritik an
Historikern gibt - etwa Winkler - mit denen Wehler nicht übereinstimmt.
Außerdem ist der Anmerkungsapparat unübersichtlich, so dass er kaum
überprüfbar ist. Dies gilt leider für alle Wehlerschen Publikationen.